Amnesty Journal 25. April 2021

Lockdown für Arbeitsrechte

Eine große Menschenmenge während einer Protestkundgebung in Bangladesch, Männer und Frauen, die eng beinander stehen, Mundnasenschutzmasken tragen, manche von ihnen recken die Fäuste als Geste des Protests.

Der Umgang mit Corona spaltet die Weltgesellschaft noch tiefer: Auf Schiffen, in Textilfabriken, Krankenhäusern und auf deutschen Erdbeerfeldern verschärft sich die Ausbeutung.

Von Annette Jensen

Neunzehn Männer stehen an Deck eines 186 Meter ­langen Schiffes und halten Pappschilder in die Höhe: "Please help us". Manche von ihnen haben mehr als zwei Jahre lang geschuftet, ihr Arbeitgeber ist mit 400.000 Dollar Heuer im Rückstand. Seit Monaten liegt der Massengutfrachter Ula in einem kleinen Hafen in Kuwait. Die Reederei hat das Schiff aufgegeben – vermutlich wegen fehlender Ladung infolge der Pandemie.

In ihrer Verzweiflung sind die Seeleute aus Indien, der Türkei, Aserbaidschan und Bangladesch im Januar in den Hungerstreik getreten. "Wir haben Schulden zu Hause, wir brauchen das Geld", erklärte Bhjanu Shakar Panda im Fernsehsender Al-Arabiya zur Begründung, warum die Mannschaft das Schiff nicht verlassen will. Ein Kollege berichtete, sein Vater sei wegen der Pandemie arbeitslos geworden und nun hänge der Lebensunterhalt der gesamten Familie von ihm ab. Solange ihre Verwandten hungerten, wollten auch sie nichts mehr zu sich nehmen, verkündete die Crew. Im März war noch keine Lösung in Sicht.

Schiffsleute unter Druck

Normalerweise muss in solch einem Fall die Versicherung einspringen und für die Heuer aufkommen – und wenn die nicht bezahlt, ist das Land in der Pflicht, in dem das Schiff gemeldet ist. Doch der kleine Inselstaat Palau hat die Registrierung der Ula vor ein paar Monaten einfach gelöscht.

Paddy Crumlin, Vorsitzender des Internationalen Gewerkschaftsbunds der Transportarbeiter (ITF), weist auf windige Tricks hin, die in der globalen Schifffahrt üblich sind. "Es wird oft absichtlich verschleiert, wer für die Besatzungsmitglieder zuständig ist." Seine Organisation ist international bestens vernetzt und versucht, Schiffsleuten in schwierigen Situationen zu helfen. 

Dies betrifft gegenwärtig besonders viele Crews. Wegen der Corona-Schutzmaßnahmen dürfen Seeleute oft nicht an Land gehen; im Herbst 2020 saßen 400.000 auf Frachtern fest. Viele haben schon viel länger an Bord gearbeitet als die international zulässigen elf Monate. "Nach so langer Zeit sind die Seeleute erschöpft und ausgelaugt – und dann steigt nachweislich auch die Zahl der Konflikte und Unfälle. Vielen fehlt auch medizinische Hilfe. Und wir bekommen mit, dass Suizidgedanken und sogar Suizide zunehmen", berichtet Rory McCourt von der ITF. Zugleich geraten auch die Ablösemannschaften in finanzielle Schwierigkeiten, weil sie wegen der Lockdown und Grenzschließungen nicht zu ihren Einsatzorten kommen.

Dagegen boomt das Geschäft vieler großer Schiffseigner wieder, nachdem sie zu Beginn der Pandemie kurzfristig Umsatzeinbrüche hatten. Ein Großteil spart beim Personal. Um deutsche Arbeitsschutzbestimmungen zu umgehen, fahren derzeit nur noch 14 Prozent der deutschen Handelsflotte unter schwarz-rot-goldener Flagge, obwohl die Regierung mit Steuererleichterungen reagierte. Betriebswirtschaftlich betrachtet macht das Sinn. "Man hat als Reeder keinen Vorteil, wenn man die deutsche Flagge hat – deshalb bekomme ich nicht die Ladung von Volkswagen oder Mercedes", erklärte Dirk Max Johns, ehemaliger Geschäftsführer des Deutschen Reeder-Verbands im vergangenen Sommer im ZDF.

Globale Antworten und gemeinsame Strategien

Weltweit hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf Arbeits­bedingungen und Menschenrechte.  Wie gravierend die Folgen ausfallen, ist unterschiedlich. "Allen, denen es vorher schon schlecht ging, geht es jetzt noch schlechter", so fasst es Annette Hartmetz von der Amnesty-Themenkoordination Gewerkschaften zusammen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) beobachtete zuletzt immer mehr Arbeitsrechtsverletzungen.

Während die Länder des globalen Nordens aus der Finanz­krise 2009 die Lehre gezogen haben, Entlassungen möglichst zu verhindern, und dafür üppige Konjunkturpakete schnüren, trifft die Krise im globalen Süden viele Menschen mit voller Wucht. Fast zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung weltweit sind im informellen Sektor beschäftigt und haben in der Regel keinerlei soziale Absicherung.

Als Indiens Regierungschef Narendra Modi am 24. März 2020 spontan eine Ausgangssperre verhängte, standen die Tagelöhner vor dem Nichts. Millionen versuchten, sich zu Fuß in ihre Heimatdörfer durchzuschlagen. Wie viele von ihnen auf den langen Märschen verhungert und verdurstet sind, ist nicht bekannt.

Indische Männer stehen um einen Tisch und stellen Schuhe her, auf einem Teil des Tisches sind viele Kinderschuhe gleichen Typs übereinander gestapelt.

Nicht nur in Indien sind viele auf das Geld angewiesen, das Familienmitglieder in der Ferne verdienen. In Ländern wie Senegal, Simbabwe oder Kirgisistan besteht das Bruttoinlands­produkt zu etwa einem Drittel aus Überweisungen aus dem ­Ausland. Diese Zahlungen sind in der Pandemie deutlich eingebrochen, weil Migrant_innen meist als erste entlassen wurden. Die Weltbank schätzt, dass die private Finanzhilfe aus dem Ausland 2020 um etwa 20 Prozent zurückgegangen ist.

Gegen die Corona-Krise bräuchte es globale Antworten und gemeinsame Strategien – doch tatsächlich verschärfen sich ­Nationalisierungs- und Abschottungstendenzen, sagt Carolin Vollman, DGB-Expertin für Internationales. Die Bekleidungs­industrie ist ein Beispiel dafür: Als die Läden in Europa dichtmachten, stornierten große Textil- und Schuhhändler einen Großteil ihrer Aufträge, wodurch allein in Bangladesch zwei Millionen Näherinnen ihre Arbeit verloren. Einige wollten sogar bereits produzierte Ware nicht mehr abnehmen.

In Deutschland machten viele Firmen außerdem Front gegen das geplante Lieferkettengesetz – und fanden Gehör bei Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), der davor warnte, die Unternehmen während der Pandemie zusätzlich zu belasten. Nach langer Verzögerung liegt nun ein schwacher Gesetzentwurf vor.

Weltweite Armut könnte wachsen

Die Kosten müssen die Schwächsten tragen, wie eine Studie der Nichtregierungsorganisationen Südwind und Inkota über die Lederindustrie in Indien belegt. Zwei Monate lang standen alle Beschäftigten der Schuhfabriken ohne Einkommen da, manche erhielten nicht einmal mehr den Lohn für bereits geleistete Arbeit. Im Juni lief die Produktion dann mit 40 Prozent weniger Personal wieder an. Wer weiter dabei ist, muss sich oft mit weniger Geld begnügen als vor der Pandemie – und das, obwohl viele Beschäftigte noch nie den gesetzlichen Mindestlohn erhalten haben, der im Bundesstaat Uttar Pradesh bei umgerechnet 112,90 Euro pro Monat für angelernte Arbeiter_innen liegt.

Die dortige Regierung nutzte die Krise außerdem, um einen Großteil der Arbeitsschutzgesetze für drei Jahre außer Kraft zu setzen. Dahinter steht die Hoffnung, von den wachsenden Vorbehalten gegenüber China als Lieferland zu profitieren und neue Investoren nach Uttar Pradesh zu locken.

Unter solchen Umständen erstaunt es nicht, dass die Weltbank davon ausgeht, die Armut werde erstmals seit 1998 wieder deutlich anwachsen. Bereits in den vergangenen Jahren fielen die Erfolge bei der Umsetzung des UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung immer kleiner aus: Der Klimawandel macht viele Anstrengungen zunichte. Und nun drohen sogar Rückschritte.

Saisonkräfte in Deutschland

Dabei muss man nicht einmal in die Ferne schweifen, um ausbeuterische Arbeitsbedingungen zu beobachten. Es reicht ein Blick auf die Spargel- und Erdbeerfelder in Deutschland. Jahr für Jahr kommen Hunderttausende Saisonkräfte aus Osteuropa. Und obwohl in Deutschland offiziell der Mindestlohn gezahlt werden muss, verdienen die Menschen aus Bulgarien und Rumänien manchmal nur etwa vier Euro pro Stunde. Getrickst wird bei den Arbeitszeiten und den Kosten für die oft miserable Unterkunft.

Während es für die Schlachthöfe wegen der Skandale um hohe Infektionszahlen seit Anfang des Jahres ein Gesetz gibt, das solche Zustände verhindern soll, ist die Lage in der Landwirtschaft unverändert. Zumindest fast. Die Arbeitgeber nutzten die Pandemie, um durchzusetzen, dass Saisonarbeitskräfte in Deutschland nun 115 statt wie bisher 70 Tage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden können.

So verschärft Corona die Spaltung der Gesellschaften: Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Während die Gewinne bei Amazon durch die Decke gehen und das Vermögen von Gründer Jeff Bezos binnen Jahresfrist um 72 Milliarden Dollar anschwoll, spart der Versandhändler am Infektionsschutz für das Personal. In mehreren französischen Logistikzentren kam es deshalb zu wilden Streiks, berichtete die französische Gewerkschaft CNT-AIT. In den USA laufen mehrere Arbeitsgerichtsprozesse, weil Amazon Menschen entlassen hat, die gegen mangelnden Corona-Schutz protestiert hatten.

Repressalien im Gesundheitswesen

Unmittelbar von der Pandemie betroffen sind die Beschäftigten im Gesundheitswesen. Mindestens 17.000 Pfleger_innen und Ärzt_innen sind bis März 2021 an Covid-19 gestorben, belegt eine aktuelle Untersuchung von Amnesty in Zusammenarbeit mit den internationalen Gewerkschaftsverbänden PSI und UNI. Die Organisationen fordern, das Krankenhaus- und Pflegepersonal weltweit vorrangig zu impfen. Doch davon kann keine Rede sein. "Mehr als die Hälfte der global verfügbaren Impfdosen gegen Covid-19 wurde bisher in nur zehn wohlhabenden Ländern verabreicht. In mehr als 100 Ländern hingegen wurde bis Anfang Februar 2021 noch keine einzige Person geimpft", bilanziert Steve Cockburn, Amnesty-Experte für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte.

Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen, die auf Gefahren für ihren Berufsstand hinweisen, sind häufig Repressalien ausgesetzt. Der chinesische Augenarzt Li Wenliang aus dem Zentralkrankenhaus in Wuhan war der erste, der das erfahren musste: Er hatte Kolleg_innen geraten, Schutzkleidung zu tragen, wenn sie mit Infizierten des neuartigen Lungenvirus zu tun hätten. Die Polizei und ein lokales "Sicherheitsbüro" zwangen ihn, seine Warnungen für falsch zu erklären – wenige Wochen später starb der 34-Jährige selbst an Covid-19.

Ohne Schutzkleidung

Gegen die Ärztin Tatyana Revva aus dem südrussischen Wolgograd wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet, nachdem sie in einem Video auf mangelnde Ausrüstung und fehlende Schulungen in ihrem Krankenhaus hingewiesen hatte. In Nicaragua verbot die Regierung zunächst sogar die Nutzung von Masken.

Kaum im Fokus stehen die Reinigungskräfte in Kliniken, die häufig ohne Schutzkleidung und ausreichende Desinfektionsmittel putzen müssen. Ein Arzt aus Honduras berichtet, dass die Frauen oft mit bloßen Händen arbeiteten. Besonders hart geht Venezuela vor: Mehrere Beschäftigte im Gesundheitssektor wurden vor Zivil- oder Militärgerichte gestellt, weil sie auf Gefahren für sich und die Patient_innen hingewiesen hatten.

Nach Angaben der ILO zahlen Frauen, Beschäftigte im Niedriglohnsektor, Kinder und Migrant_innen den höchsten Preis für die Corona-Folgen in der Arbeitswelt. Binnen Monaten wurden positive Entwicklungen von Jahrzehnten zerstört, stellte der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Mark Lowcock fest. Für Mädchen wirken sich die Schulschließungen extrem nachteilig aus, was ihre berufliche Zukunft angeht. Im globalen Süden würden wahrscheinlich viele Kinder nie mehr ins Klassenzimmer zurückfinden, eine Zunahme von Kinderehen und häuslicher Gewalt sei absehbar, warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Eines scheint leider sicher: Corona und der Umgang damit vertiefen die Spaltung der Welt immer weiter.

Annette Jensen ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

HINTERGRUND

Amnesty zum Lieferkettengesetz

Dass es endlich ein Lieferkettengesetz geben wird, ist ein historischer Schritt. Doch der Entwurf der Bundesregierung hat Lücken: Denn er erfasst nur große Unternehmen. Damit gilt das geplante Gesetz für die meisten deutschen Unternehmen nicht – selbst wenn sie zu Branchen gehören, in denen es ein hohes Risiko für Menschenrechtsverletzungen gibt. Außerdem müssen Firmen nur ihre direkten Zulieferer selbstständig auf Verstöße hin untersuchen. Die meisten Menschenrechtsverletzungen finden jedoch bereits am Anfang der Lieferkette statt: Kinder, die in Minen arbeiten, oder Näherinnen in Bangladesch liefern nicht direkt an deutsche Unternehmen. Außerdem sieht das Gesetz zwar Sanktionen bei Fehlverhalten der Firmen vor, aber keine zivilrechtliche Haftung. Die hätte es ermöglicht, dass Betroffene in Deutschland gegen die Unternehmen klagen können. Immerhin: Deutsche zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften sollen künftig im Namen der Betroffenen klagen dürfen. Es geht vorwärts – leider in zu kleinen Schritten.

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