Amnesty Journal Bahrain 24. April 2023

"Wenn Diktatoren dich hassen, weißt du, dass du das Richtige tust"

Eine Frau trägt ein Kopftuch und eine Sonnenbrille, die sie hoch über ihre Stirn geschoben hat, über ihre Stirn fallen ein paar Haarsträhnen.

Im Zuge der Massenproteste in den arabischen Ländern gingen 2011 auch im kleinen Golfstaat Bahrain Hunderttausende Menschen auf die Straße. Zwölf Jahre später ist von der Bewegung kaum etwas übrig. Prominente Menschenrechtsverteidiger wie Abdulhadi Al-Khawaja sitzen seit vielen Jahren im Gefängnis, Aktivistinnen wie seine Tochter Zaynab Al-Khawaja mussten das Land verlassen. Die 39-Jährige erzählt vom Stolz auf ihren Vater und spricht über die ­verlorene Hoffnung auf Veränderung in ihrem Heimatland.

Interview: Hannah El-Hitami

Sie sind in Dänemark aufgewachsen und zogen mit 17 Jahren zurück nach Bahrain. Wie hat sich Ihr Leben an diesem Punkt verändert?

2001 gab es eine Amnestie für politisch Verfolgte in Bahrain, da konnten meine Eltern und ich zurückgehen. Bis dahin hatte ich außerhalb meines Landes gelebt, weit weg von meinen Verwandten. Meine Eltern liebten ihre Heimat aber sehr, dadurch habe ich mich immer bahrainisch gefühlt. Mein allergrößter Traum war, eines Tages nach Hause zurückzukehren. Und es war tatsächlich genauso, wie ich es mir erhofft hatte. Ich erinnere mich daran, wie ich das Land betrat und fühlte: Hier gehöre ich hin. Außerhalb von Bahrain habe ich das Gefühl, ich existiere bloß von Kopf bis Fuß. Aber in Bahrain fühlt sich mein Dasein größer an. Ich habe das Gefühl, dass ich vertikal von tief unter der Erde, wo meine Vorfahren begraben sind, bis in den Himmel zu den Minaretten reiche, und horizontal mit all meinen Verwandten und Vorfahren verbunden bin, die meine Sprache und Kultur teilen.

Wie hat sich das auf Ihr politisches Engagement ausgewirkt?

Da war diese Liebe für mein Land und meine Mitbürger*innen, und ich wollte, dass es uns besser geht. Als ich damals zurückkam, hat sich Bahrain wie ein Friedhof angefühlt. Niemand wagte es, sich frei zu äußern, das Risiko war einfach zu groß. Ich arbeitete anfangs zu den Themen Folter und Arbeitslosigkeit, dann zunehmend für die Rechte von Arbeitsmigrant*innen. Mein Vater gründete das Bahrain Centre for Human Rights, wo wir Berichte über Armutsursachen und Korruption anfertigten und Trainings für Menschenrechtsarbeit gaben, zum Beispiel zur Dokumentation und Sicherheit bei Demonstrationen.

Ihr Vater Abdulhadi Al-Khawaja ist ­einer der bekanntesten Menschenrechtsaktivisten Bahrains und sitzt wegen seines Engagements seit mehr als zehn Jahren im Gefängnis. Wie hat sein Aktivismus Sie geprägt?

Meine Eltern sind leidenschaftliche Aktivist*innen, doch sie haben uns nie dazu aufgefordert mitzumachen. Mein Vater machte einfach sein Ding, und wenn ich mithelfen wollte, gab er mir eine Aufgabe. Mit elf Jahren habe ich zum Beispiel Steckbriefe politischer Gefangener in Bahrain angefertigt und an internationale Organisationen geschickt. Ich denke, das ist die beste Art, Menschen zu beeinflussen: durch Taten und nicht, indem man ihnen etwas vorschreibt. Die Leidenschaft meiner Eltern für Gerechtigkeit beeindruckt mich bis heute. So wurde ich erzogen: Das ultimative Glück liegt darin, die Welt für andere besser zu machen.

Eine junge Frau in einer Lederjacke steht vor einer hohen Wand aus Glas, sie lächelt, hinter ihr sind Bäume.

Zaynabs Schwester Maryam Al-Khawaja war in Bahrain inaftiert und lebt in Dänemark. Die Beraterin für Menschenrechte hat bereits mehrere Preise für ihr Engagement erhalten.

Wann sind Sie das letzte Mal als ­Familie zusammengekommen?

Das letzte Mal, dass die ganze Familie in einem Raum war, war 2013. Meine Schwester Maryam war nach Bahrain zurückgekommen, weil mein Vater im Hungerstreik war, und wurde am Flughafen festgenommen. Sie war im Frauengefängnis, mein Vater im Jaw-Gefängnis, und ich war gerade frei, zwischen zwei Inhaftierungen. Die Behörden erlaubten uns ein Familientreffen im Jaw-Gefängnis. Wir waren so glücklich, zusammen zu sein, doch unsere Freude wurde durch die ­Kameras und Gefängniswärter getrübt, die uns beobachteten. Jetzt kommen wir übrigen Familienmitglieder nur selten zusammen, weil wir in verschiedenen Ländern leben. Und wenn wir uns doch treffen, bricht die Abwesenheit meines Vaters uns das Herz.

Wie stehen Sie mit ihm in Kontakt?

Als ich noch in Bahrain und selbst im Gefängnis war, habe ich ständig gefordert, meinen Vater anrufen oder besuchen zu dürfen. Selten erlaubten sie es mir. Ich schrieb ihm damals viele Briefe. Seit ich Bahrain vor sieben Jahren verlassen habe, habe ich ihm nicht mehr gegenübergestanden oder ihn umarmt. Jetzt können wir regelmäßig mit ihm telefonieren, oft auch per Videocall. Doch die meisten Telefonate sind stressig. Sobald wir anfangen zu telefonieren, ermahnen die Gefängniswärter meinen Vater, dass er über dieses oder jenes nicht reden darf. Noch bevor die vorgegebene Zeit vorbei ist, zwingen sie ihn, aufzulegen. Er fängt dann an, mit ihnen zu diskutieren, und sie drohen, seine Telefonate zu verbieten. Mein Vater lässt sich seine Rechte nicht so leicht nehmen und protestiert mit den begrenzten Mitteln, die er als Gefangener hat, oftmals durch einen Hungerstreik. Davor haben wir große Angst, denn es geht ihm nach der Folter, mehreren Hungerstreiks und einem Jahrzehnt im Gefängnis ohne adäquate medizinische ­Versorgung gesundheitlich sehr schlecht. Immer wieder müssen wir laut werden, damit sie nicht zu weit gehen. Wir wissen nicht, wie wir ihn sonst beschützen sollen.

Am stärksten war sein Lächeln auf einer Demonstration kurz vor seiner Festnahme. Die Polizei begann auf uns zu schießen. Er wandte ihnen den ­Rücken zu, breitete seine Arme aus, um mich zu schützen und lächelte ganz ruhig.

Was sehen Sie, wenn Sie an Ihren ­Vater denken?

Sein Lächeln. Am stärksten war sein Lächeln auf einer Demonstration kurz vor seiner Festnahme. Die Polizei begann auf uns zu schießen. Er wandte ihnen den ­Rücken zu, breitete seine Arme aus, um mich zu schützen und lächelte ganz ruhig. Er lächelt immer, wenn wir telefonieren. Nur einmal lächelte er nicht: Das war 2011 nach seinem ersten Prozess im Militärgericht. Durch die Folter war sein Kiefer gebrochen, und er konnte nicht ­lächeln, doch er signalisierte uns mit ­einem Daumen hoch, dass alles okay war. Manchmal sind wir hoffnungslos, nach dieser langen Zeit. Aber sobald er anruft, fühlen wir, wie stark und hoffnungsvoll er ist. Er betont immer, dass wir stolz auf diesen Weg sein sollen, den wir gewählt haben, und dass wir es als Segen betrachten sollen, ihn zu gehen.

Was macht Sie stolz auf Ihren Vater?

Ich habe gesehen, wie stark er ist, wenn er sich gegen die Mächtigsten auflehnt, aber auch, wie liebevoll er mit Folterüberlebenden oder den Familien politischer ­Gefangener umging. Er hat so viel Erfahrung mit Menschenrechten, aber wenn er mit Mitstreiter*innen Pläne schmiedet, würde er niemals seine Meinung über die der anderen stellen. Er gibt Menschen das Gefühl, gehört und gesehen zu werden. Mein Vater wurde auf so viele Arten angegriffen, und jetzt im Gefängnis suchen sie immer noch nach Wegen, ihn zu brechen. Vor Kurzem wurde er wegen neuer Vorwürfe verurteilt. Bei den Verfahren durfte er nicht einmal anwesend sein. Sie wollen ihn dafür bestrafen, dass er sich für die Rechte der Gefangenen einsetzt. Doch er bleibt wie immer stark. Er sagte mir mal: "Wenn Diktatoren und Verbrecher dich hassen, weißt du, dass du das Richtige tust."

Hoffen oder fürchten Sie, dass ihre ­eigenen Kinder später politisch aktiv werden?

Als Mutter ist das schwer zu beantworten. Meine Kinder haben schon viel durchgemacht. Mein Sohn Hadi war mit mir im Gefängnis, als er noch kein Jahr alt war. Meine Tochter Jude hat erlebt, dass ihre Mutter im Gefängnis war, ihr Großvater, ihr Vater, ihr Onkel, ihr Großonkel. Dass ein Zuhause angegriffen wird, Türen aufgebrochen werden, geliebte Menschen mitgenommen werden, war Teil ihrer ­Realität. Als sie fünf Jahre alt war, wurde ich zusammen mit ihrem kleinen Bruder festgenommen. An diesem Tag war sie sehr stark. Wir öffneten die Haustür, und da stand so viel Polizei, vermummt und mit Waffen. Jude hielt meine Hand, stand ganz aufrecht und sagte: "Ich bringe dich zum Auto." Einerseits will ich, dass meine Kinder für sich selbst und andere einstehen. Mir wurde beigebracht, bei Unrecht nicht zu schweigen oder wegzuschauen, und daran glaube ich als Mensch und auch als Muslima. Andererseits wünsche ich mir als Mutter, die Welt für meine Kinder sicherer zu machen, damit sie nicht so viel durchmachen müssen, um ihre grundlegenden Rechte leben zu können.

In Bahrain drohen Ihnen bis zu 15 ­Jahre Haft. Sie mussten das Land verlassen und leben nun in Dänemark. Fühlen Sie sich dort zu Hause?

Die ehrliche Antwort ist: nein. Schon als Kind wurde mir in Dänemark vermittelt, dass ich anders bin. Ich habe damals viel Rassismus erlebt, wurde als muslimisches, arabisches Mädchen immer als unterdrücktes Opfer dargestellt. Dabei wurde ich zu Hause als Anführerin erzogen! Ich habe mich von Dänen unterdrückt und von meiner Familie ermächtigt gefühlt. Andererseits hat uns das Aufwachsen in Dänemark natürlich Sicherheit gegeben. Und jetzt kann ich hier leben und Zeit mit meinen Kindern verbringen, anstatt Jahre im Gefängnis zu sitzen. Ich habe also gemischte Gefühle.

Können Sie aus dem Ausland politisch aktiv sein?

Ich arbeite für eine Menschenrechtsorganisation mit Fokus auf die Golfregion, fühle mich aber etwas verloren in der internationalen Menschenrechtsarbeit. Es scheint manchmal, als könnten Menschenrechtsorganisationen ohne die Hilfe von Regierungen wenig erreichen. Die ­Regierungen wiederum reden über Menschenrechte, verkaufen aber Waffen an Diktatoren. Einmal ging ich mit meiner Schwester zu einem Treffen mit Regierungsvertreter*innen. Sie bekundeten ihre Sorge um meinen Vater, lobten ihn und sagten nette Sachen. Doch als wir sie baten, sich für ihn einzusetzen, wichen sie aus. Am Ende des Meetings baten sie uns, keine Fotos zu machen und nicht öffentlich darüber zu sprechen. Die Golf-Regime sollten nicht erfahren, dass sie sich mit uns getroffen hatten, weil sie um ihre Beziehungen fürchteten. Regierungen im Westen reden viel über Menschenrechte und Demokratie, aber letztlich geht es nur um Geld und Beziehungen. Ich weiß aktuell nicht, wie ich helfen kann. Es schmerzt mich sehr, dass viele Aktivis­t*innen, die mehr geleistet und riskiert haben als ich, noch immer im Gefängnis sind, während ich frei bin.

Gibt es aktuell noch eine politische Bewegung in Bahrain?

Die Lage ist heute viel schlimmer als 2011. Damals wurden Menschen auf der Straße und im Gefängnis getötet, aber es gab Widerstand. Heute kann man für einen Retweet drei Jahre ins Gefängnis kommen, von Protesten auf der Straße ganz zu schweigen. Es gibt noch wenige Mutige, die sich kritisch äußern, doch die meisten Aktivist*innen sind heute im Gefängnis, unter Hausarrest, im Exil oder sogar tot. Die Menschen leben in Angst, jeden Tag, und ich kann das nachvollziehen. Sie müssen nicht nur gegen das bahrainische Regime kämpfen, sondern gegen alle Golf-Monarchien und obendrein noch gegen alle westlichen Regierungen, die diese unterstützen.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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