Amnesty Journal Afghanistan 06. Oktober 2023

Fliehen in zu großen Schuhen

Zeichnung in Cartoon-Style, ein Junge steht auf einem Holzboot im Bug, im Meerwasser sind viele Gesichter von Menschen.Zeichnung: Cyrille Pomès / Cross Cult

Graphic Novel "9.603 Kilometer": Tagsüber gibt der zwölfjährige Adil sich tapfer, nachts hat er Albträume von der Flucht.

"9.603 Kilometer" begleitet in packendem Comic-Stil zwei Kinder auf ihrem langen und bitteren Weg von Afghanistan nach England.

Von Nina Apin

Adils Kindheit endet im Spätsommer 2014. Als sein Vater beim Ziegenhüten an einem Herzanfall stirbt, nehmen die Dinge einen Lauf, wie er im ländlichen Südosten Afghanistans üblich ist: Seine Mutter muss den Schwager heiraten, Adil wird als ältester Sohn in ein Koraninternat geschickt. Dort bilden Fanatiker kleine Jungen zu "Soldaten Allahs" aus. Der Zwölfjährige wird auserkoren, als Selbstmordattentäter eine lokale Polizeiwache in die Luft zu sprengen. Als es schiefgeht, steht fest: Adils Familie muss außer Landes, denn der Onkel und seine Islamistenfreunde werden nicht aufgeben, bis sie sich an allen gerächt haben. Adil und sein 14-jähriger Cousin Shafi sollen nach England zu einem Verwandten, damit wenigstens sie eine Zukunft haben – fernab des Wahnsinns, der das Land am Hindukusch im Griff hat.

Vor den Toren Europas

"9.603 Kilometer. Zwei Kinder auf der Flucht" heißt die Graphic Novel des französischen Autorenduos Stéphane Marchetti (Text) und Cyrille Pomès (Zeichnungen). In düstere Braun-, Grau- und Grüntöne gefärbt und in Bildrahmen mit sparsamen Textelementen zerlegt, wird eine herzzerreißende Geschichte erzählt, wie sie sich jeden Tag vor den Toren Europas abspielt. Adil und Shafi werden von Schleusern über den Hindukusch nach Pakistan gebracht, im Treck laufen sie zu Fuß durch den Iran in die Türkei und freunden sich mit dem älteren Daoud an, der bereits zum dritten Mal sein Glück auf der Route versucht. Je näher die Flüchtenden Europa kommen, desto brutaler werden die Schleuser, desto rarer werden Wasser, Nahrung und halbwegs humane Schlafplätze. An der griechisch-mazedonischen Grenze sitzen die Kinder fest, die Grenzpolizei lässt nur Familien durch. Schließlich stürmen sie unter Beschuss die Grenzbefestigung. In den Wäldern von Nordmazedonien werden sie überfallen und all ihrer Habseligkeiten beraubt, in Ungarn zeitweise getrennt.

Adil mit den stets zu großen Schuhen verkündet zwar an einer Stelle: "Ich bin Paschtune, ich hab vor nichts Angst!" Doch kommen den Reisegefährten im Lauf der Flucht zunehmend die Worte abhanden, es dominieren reduzierte, in harten Kontrasten gehaltene Bilder. Im berüchtigten "Dschungel" von Calais illustriert viel Schwarz die Verzweiflung der Kinder, die vergebens auf Einreisepapiere nach England warten. Zermürbt von Hunger, Kälte und Perspektivlosigkeit springen Adil und Shafi schließlich auf einen LKW, der durch den Tunnel nach England fährt.

Die expressiven Bilder und die schnell ineinander geschnittenen Alltagsszenen lassen einen die Flucht aus Kinderaugen erleben. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die besonders prekäre Situation unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und die fortwährende Missachtung der Kinderrechte, die Jungen wie Adil in ihren Herkunftsländern und an den EU-Außengrenzen erleben.

Stéphane Marchetti, Cyrille Pomès: 9.603 Kilometer: Zwei Kinder auf der Flucht. Cross Cult, Ludwigsburg 2023, 128 Seiten, 30 Euro.

WEITERE BUCHTIPPS

Postmoderner Don Quijote

von Wera Reusch

Genervt von Madrid zieht Enrique aufs Land. Gute Luft, Sternenhimmel, allerdings schlechter Handyempfang. Schon bald offenbaren sich noch gravierendere Missstände: Im Dorfladen gibt es weder Quinoa noch kompostierbare Kaffeekapseln. Schlimmer noch, im Hühnerstall seines Onkels herrscht eine heteropatriachale Ordnung, und die Männer des Dorfes jagen Rebhühner und Wildschweine, anstatt sie als fühlende Wesen anzuerkennen. So langsam dämmert es dem "Hipster von der traurigen Gestalt": "Ich muss bei Null anfangen und werde einen Workshop zur neuen Männlichkeit anbieten."

Nach dem Vorbild des Don Quijote lebt der globalisierungskritisch-feministisch-inklusiv-vegane Held dieses Romans in einem Paralleluniversum und prallt bei seinen Abenteuern mit der Realität zusammen, die er tapfer ignoriert. Sein Vorschlag, Container für organische Abfälle aufzustellen und deren Inhalt später an die Hühnerställe zu verteilen, stößt auf Ablehnung: "Die Leute sagten, sie würden die Reste lieber gleich an ihre Hühner verfüttern." Und am 8. März notiert er: "Habe auf dem Marktplatz gewartet, dass mehr Leute an der Kundgebung zum Internationalen Frauentag teilnehmen. Schließlich ist meine Tante gekommen, sie hat mich gefragt, ob ich einen Happen essen will."

Der spanische Autor Daniel Gascón hat erkannt, dass Konflikte zwischen Theorie und Praxis, Stadt und Land, Linken und Rechten komisches Potenzial bergen, das er genüsslich ausschlachtet. Zwar sind einige Episoden zu überdreht, und der drehbuchartige Stil einzelner Szenen schielt etwas zu offensichtlich nach einer Verfilmung (Netflix hat inzwischen die Rechte gekauft), doch insgesamt ist "Der Hipster von der traurigen Gestalt" ein äußerst komischer Roman, der auf liebenswürdige Weise Widersprüche diskursgestählter Städter (m/w/d) entlarvt.

Daniel Gascón: Der Hipster von der traurigen Gestalt. Aus dem Spanischen von Christian Hansen, Antje Kunstmann, München 2023, 192 Seiten, 20 Euro.

Koloniale Gegenwart

von Maik Söhler

Wenn der imperiale Anspruch eines einstigen Weltreichs auf eine Landfläche von gut 63 Quadratkilometern zusammenschrumpft, dann sind wir auf dem Chagos-Archipel mitten im Indischen Ozean. Und wenn Großbritannien diese 63 Quadratkilometer noch heute, Jahrzehnte nach der Dekolonialisierung, völkerrechtswidrig für eigene Zwecke nutzt, dann sind wir mitten in der bizarren Gegenwart der britischen Kolonialgeschichte. Bizarr, weil sie längst vorbei sein sollte.

In seinem Sachbuch "Die letzte Kolonie" schildert Philippe Sands, britischer Anwalt und Professor für Internationales Recht in London, den langjährigen Rechtsstreit zwischen dem Vereinigten Königreich auf der einen und Mauritius sowie den ehemaligen Bewohner*innen von Chagos auf der anderen Seite. Seit den 1960er Jahren gilt Chagos als "Britisches Territorium im Indischen Ozean", einen Teil haben die USA gepachtet und nutzen ihn als Militärstützpunkt. Sämtliche Bewohner*innen des Archipels wurden in den frühen 1970er Jahren gegen ihren Willen in die USA oder nach Mauritius gebracht. Obwohl der Internationale Gerichtshof im Jahr 2019 Mauritius Recht gab, ignoriert Großbritannien das Urteil und verweigert den Chagossianer*innen bis heute die Rückkehr.

Sands erzählt all dies mit trockenem britischen Humor und bezieht auch die Perspektive der Chagossianer*innen ein. Sein unterhaltsames und lebendiges Buch über sperriges internationales Recht und verstaubte kolonialistische Kontinuität wird ergänzt durch Zeichnungen von Martin Rowson, die mit künstlerischer Leichtigkeit und feinem Strich die Atmosphäre im Gerichtssaal mit der imperialen Weltgeschichte verbinden. Ärgerlich ist nur die koloniale Realität, die es nötig macht, dass dieses Buch im Jahr 2023 überhaupt noch erscheinen muss.

Philippe Sands: Die letzte Kolonie. Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Indischen Ozean. Aus dem Englischen von Thomas Bertram. Mit Illustrationen von Martin Rowson. S. ­Fischer, Frankfurt/M. 2023, 320 Seiten, 25 Euro.

Gefiederte Bedrohung

von Marlene Zöhrer

Bruno, ein junger, aufgeweckter Kater, ist mit seinen Eltern auf dem Spielplatz, als er sich beobachtet fühlt: Taube sitzt oben im Kletterbaum und schaut dem Kater beim Pinkeln zu. Dem ist die Situation unheimlich und unangenehm. Und das Erlebnis wirkt nach: Beim Abendbrot bekommt er keinen Bissen hinunter. Doch es kommt noch schlimmer: Als Bruno wegen Magenschmerzen, verursacht durch eine neuerliche, unangenehme Begegnung mit Taube, nicht in die Kita kann, springt ausgerechnet der bedrohliche Vogel als Babysitter ein. Bruno ist ihm hilflos ausgeliefert: "Taubes Flügel schließen sich um Bruno. Dicht und dunkel. Taubes Federn sind überall. Bruno bekommt keine Luft." Das Bild zu diesem Text zeigt, wie der kleine Kater mit weit geöffneten Augen im Bett liegt, die Bettdecke bis unters Kinn gezogen – um ihn herum Taubes Arme und überall Federn. Die Eltern bemerken zwar, dass ihr Sohn sich verändert, ahnen aber zunächst nichts. Erst als Bruno sich beim Anblick von Taube einnässt, verstehen sie, was ihrem Kind widerfahren ist.

Die Geschichte von Bruno ist kein Bilderbuch, das man Kindern einfach so in die Hand drückt. "Bruno" ist vielmehr die Möglichkeit, schon mit kleinen Kindern über sexuellen Missbrauch ins Gespräch zu kommen: behutsam, offen und ehrlich. Stefanie Taschinski und Karsten Teich zeigen, wie Kinder ihre Ängste zum Ausdruck bringen und sich Hilfe holen können. Die Geschichte des kleinen Katers richtet sich auch an die Erwachsenen, die das Buch gemeinsam mit Kindern lesen und betrachten, indem es Warnsignale visualisiert und Konsequenzen aufzeigt. Karsten Teichs comichafte Bilder finden selbst in bedrohlichen Situationen ein wohldosiertes Maß an Deutlichkeit und Abstraktion. Und Bruno hat Glück: Seine Eltern sind aufmerksam. Sie deuten die Signale richtig und handeln sofort – Taube wird verhaftet und zur Rechenschaft gezogen.

Stefanie Taschinski / Karsten Teich: Bruno. DragonFly, Hamburg 2023, 40 Seiten, 15 Euro.

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