Aktuell Russische Föderation 11. März 2022

Russland: Kreml geht rücksichtslos gegen Antikriegsbewegung und unabhängige Medien vor

Das Bild zeigt zwei Polizisten, wie sie eine Person an Händen und Füßen wegtragen

Polizisten nehmen in St. Petersburg einen Demonstranten fest, der an einer Protestaktion gegen die russische Invasion der Ukraine teilgenommen hatte (28. Februar 2021).

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gehen die russischen Behörden in beispielloser Weise gegen kritischen Journalismus, Antikriegsproteste und abweichende Meinungen vor: Unabhängige Medien in Russland sind blockiert und der Zugang zu Facebook und Twitter ist gesperrt. Mehr als 150 Journalist_innen sind aus dem Land geflohen. Darüber hinaus gab es bei Antikriegskundgebungen seit dem 24. Februar 2022 mehr als 13.800 willkürliche Festnahmen.

Die russischen Behörden haben den Menschen in Russland fast vollständig den Zugang zu objektiven, unvoreingenommenen und vertrauenswürdigen Informationen genommen, indem sie die populärsten kritischen Medien blockiert, unabhängige Radiosender geschlossen und Dutzende von Journalist_innen gezwungen haben, ihre Arbeit einzustellen oder das Land zu verlassen. 

Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor hat außerdem den Zugang zu Facebook und Twitter gesperrt. Ein neues Gesetz bestraft darüber hinaus unabhängige Kriegsberichterstattung mit bis zu 15 Jahren Haft; der Begriff "Krieg" sowie Aufrufe zum "Frieden" sind effektiv verboten.

"Seit zwei Jahrzehnten führen die russischen Behörden einen verdeckten Kampf gegen Andersdenkende, indem sie Journalist_innen festnehmen, gegen unabhängige Redaktionen vorgehen und Medienunternehmen zur Selbstzensur zwingen. Seit dem Vordringen russischer Panzer in die Ukraine sind die Behörden jedoch zu einer Strategie der verbrannten Erde übergegangen, die die russische Medienlandschaft in Ödland verwandelt hat", sagt Marie Struthers, Direktorin für Osteuropa und Zentralasien bei Amnesty International. 

Kritische Berichterstattung und Soziale Medien zum Schweigen gebracht 

Mit Beginn der Invasion hat Roskomnadzor eine kriegsähnliche Zensur eingeführt, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Am 24. Februar wies die Aufsichtsbehörde alle Medien an, nur noch offizielle Informationen aus staatlichen Quellen zu verwenden. Andernfalls drohten harte Strafen für die Verbreitung von "Falschinformationen". Die Begriffe "Krieg", "Invasion" und "Angriff" dürfen zur Beschreibung der russischen Militäroperationen in der Ukraine nicht verwendet werden.

Am 28. Februar blockierte Roskomnadzor die Website des zur Gruppe Radio Free Europe/Radio Liberty gehörenden Radiosenders Nastoyashchee Vremya (Aktuelle Zeiten) wegen der Verbreitung "unzuverlässiger" Informationen über die Invasion. Am 1. März waren nahezu alle ukrainischen Nachrichtenmedien für Internetnutzer_innen in Russland unzugänglich. 

Tweet der Amnesty-Gruppe Düsseldorf:

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In den Tagen darauf zensierte der Kreml rücksichtslos eine ganze Reihe unabhängiger Medien, darunter den Fernsehsender TV Rain, den Radiosender Echo Moskwy, die in Lettland ansässige Internetzeitung Meduza, die kritischen russischen Internetzeitungen Mediazona, Republic und Sobesednik, das Aktivistenportal Activatica sowie das russischsprachige Programm von BBC, Voice of America und Deutsche Welle.  

Die Sperrung von Nachrichtenseiten und die Androhung strafrechtlicher Verfolgung haben auch zu einer Abwanderung von Journalist_innen aus Russland geführt. Nach Angaben von Agentstvo, einer in Russland nicht mehr zugänglichen Website für investigativen Journalismus, sind seit Beginn des Krieges mindestens 150 Journalist_innen aus dem Land geflohen.  

TV Rain entschied sich aus Angst vor Repressalien, den Sendebetrieb einzustellen. Znak.com, ein bedeutender regionaler Nachrichtensender, stellte seinen Betrieb ein, weil er Zensur befürchtete. Der Radiosender Echo Moskwy wurde vom Netz genommen. Kurz darauf beschlossen die regierungsnahen Eigentümer_innen, das Unternehmen zu liquidieren. Sogar die Novaya Gazeta, ein Leuchtturm des unabhängigen Journalismus unter der Leitung des Friedensnobelpreisträgers Dmitri Muratow, kündigte am 4. März an, dass sie Artikel über den Einmarsch Russlands in der Ukraine entfernen werde.

Am 1. März begann Roskomnadsor, den Datenverkehr auf Twitter und Facebook zu verlangsamen, und beschuldigte beide Unternehmen dann der Verbreitung "ungenauer" Informationen über den Konflikt in der Ukraine. Am 4. März wurde der Zugang zu beiden Social-Media-Plattformen gesperrt.

"Die freie Presse in Russland ist trotz der unerbittlichen Bemühungen der Behörden nicht tot. Die mutigen Journalist_innen setzen ihre wichtige Arbeit fort, nicht in den Redaktionen, sondern als Reporter_innen im weltweiten Exil. Sie sind vielleicht nicht im Fernsehen zu sehen oder im Radio zu hören, doch ihre Wahrheit wird auf YouTube live gestreamt. Ihre Worte zieren nicht die Seiten der Zeitungen, sondern werden über Telegram-Kanäle in die Welt hinausgetragen. Die wichtigen Informationen all dieser Korrespondenten müssen geteilt werden und Wertschätzung erfahren", so Marie Struthers.  

Instrumentalisierung von Gesetzen zu "ausländischen Agenten" und "unerwünschten Organisationen" 

Die russischen Behörden haben auch auf berüchtigte repressive Gesetze zurückgegriffen, um gegen die Medien und abweichende Meinungen vorzugehen. Am 5. März wurden zwei investigative journalistische Medien, Vazhnye Istorii (Wichtige Geschichten) sowie das Projekt zur Erfassung und Veröffentlichung von organisierter Kriminalität und Korruption (Organized Crime and Corruption Reporting Project, OCCRP), als "unerwünschte Organisationen" eingestuft. Damit war ihre Tätigkeit strafbar und ihnen das Arbeiten in Russland ab diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich.

Am 9. März wurde in der Staatsduma ein neuer Gesetzentwurf eingebracht, um ein "einheitliches Register" zu schaffen für alle aktuellen und ehemaligen Mitarbeiter_innen oder Mitglieder von NGOs, öffentlichen Verbänden und Medieneinrichtungen sowie alle Einzelpersonen, die als "ausländische Agenten" eingestuft wurden.

Unterdrückung von Antikriegsprotesten

Trotz der Einführung drakonischer Restriktionen und des brutalen Vorgehens der Polizei gegen friedliche Proteste kommt es auf den Straßen weiterhin zu zahlreichen Kundgebungen der Antikriegsbewegung. Nach Angaben von OVD-Info, einer NGO zur Überwachung der Polizei, wurden seit dem 24. Februar in ganz Russland rund 13.800 friedliche Demonstrierende nach Antikriegskundgebungen willkürlich festgenommen. Zu dieser Zahl gehören mehr als 5.000 friedliche Demonstrierende, die allein am 6. März in 70 Städten festgenommen wurden.  

In Russland sind Menschen, die ihrer Freiheit beraubt werden, routinemäßig Schlägen, Demütigungen und anderen Formen der Misshandlung ausgesetzt. Viele Menschen berichten außerdem, dass ihnen der Zugang zu einem Rechtsbeistand verwehrt wurde oder sie keine Nahrung, kein Wasser und keine Schlafmöglichkeit erhielten.  

In einem speziellen Fall, der sich am 6. März auf dem Moskauer Polizeirevier Bratejewo ereignete, nahm eine Demonstrantin auf, was ein Polizist zu ihr sagte: "Es ist vorbei. Putin ist auf unserer Seite. Ihr seid die Feinde Russlands. Ihr seid die Feinde des Volkes." Weiter sagte er, "Wir werden euch alle töten, und das war's dann. Dafür bekommen wir noch eine Belohnung." Dabei zogen sie ihr an den Haaren und schlugen ihr mit einer Plastikwasserflasche ins Gesicht.  

"Die mutigen Menschen in Russland, die sich dem Krieg widersetzen, sind einem hohen persönlichen Risiko ausgesetzt. Wenn sie auf die Straße gehen, was in den Augen der Behörden bereits ein Verbrechen ist, und ein Ende des Krieges fordern, steht ihre Botschaft in so krassem Gegensatz zur staatlichen Propaganda, dass sie dadurch unweigerlich ins Visier der Sicherheitskräfte geraten. Dabei sollten diese Menschen dafür gefeiert werden, dass sie es wagen, ihre Stimme gegen das Unrecht der Invasion zu erheben", so Marie Struthers. 

Kriminalisierung von "Falschinformationen" 

Am 4. März verabschiedete das russische Parlament ein Gesetz, das die Weitergabe von "Falschinformationen" über die Aktivitäten der russischen Streitkräfte oder die "Diskreditierung" der russischen Truppen unter Strafe stellt. Jeder Person, die dieser "Verbrechen" beschuldigt wird, drohen extrem hohe Geldbußen oder eine Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren. In den darauffolgenden drei Tagen kam es zu mehr als 140 Festnahmen aufgrund des neuen Gesetzes, das die Verwendung des Begriffs "Krieg" sowie Aufrufe zum "Frieden" verbietet. 

"In dunklen Zeiten wie diesen können nur Solidarität und guter Wille dem Ansturm staatlicher Gewalt und zunehmender Gesetzlosigkeit etwas entgegensetzen. Wir fordern die russischen Behörden auf, ihre unerbittlichen Angriffe gegen zivilgesellschaftliche Organisationen und Journalist_innen einzustellen. Und wir appellieren an die internationale Gemeinschaft, russische Reporter_innen, Menschenrechtsverteidiger_innen und Aktivist_innen, die weiterhin die Wahrheit sagen und sich gegen Unrecht wehren, obwohl sie für ihre Sache furchtbar leiden müssen, in jeder erdenklichen Weise zu unterstützen", sagt Marie Struthers.  

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