Aktuell Libyen 21. September 2023

Überschwemmungen in Libyen: Bewaffnete Gruppe behindert Medienschaffende und Hilfsorganisationen

Das Foto zeigt eine komplett überflutete Straße bei Tag. Ein Kleintransporter ragt mit geöffneter Heckklappe zur Hälte aus dem Wasser heraus. Vier Personen waten durch das Wasser in der Nähe des Fahrzeugs.

Rettungskräfte in Einsatz nach den schweren Überschwemmungen im Osten Libyens (12. September 2023)

Nach den schweren Überschwemmungen in Libyen ist die Lage in den betroffenen Gebieten nach wie vor katastrophal. Allein in der Hafenstadt Darna haben die Vereinten Nationen mehr als 11.000 Tote bestätigt. Als Tausende Menschen auf die Straßen gingen, um zu protestieren, reagierte die bewaffnete Gruppe LAAF mit der Einschränkung der Arbeit von Medienschaffenden und Hilfsorganisationen.

Tausende Menschen gingen am 18. September in Darna auf die Straße. Die Bewohner*innen und freiwilligen Rettungskräfte forderten auf dem Sahaba-Platz Rechenschaft für all diejenigen Menschen, die durch die katastrophalen Überschwemmungen nach dem Bruch von zwei Dämmen in der Stadt am 11. September ums Leben gekommen waren. Die Demonstrierenden forderten außerdem Unterstützung für die Wiederaufbau- und Rehabilitationsmaßnahmen und den Rücktritt von lokalen und nationalen Behördenvertreter*innen.

Der Osten Libyens wird de facto von den selbsternannten Libysch-Arabischen Streitkräften (LAAF) kontrolliert - auch die bei den Überschwemmungen zerstörte Stadt Darna. Statt auf die Forderungen der Demonstrierenden einzugehen, antworten die LAAF mit Repression und verschärfte daraufhin die Beschränkungen für Journalist*innen. Zeug*innen berichteten Amnesty International auch von Festnahmen von Kritiker*innen und Demonstrierenden sowie Aktionen der LAAF, den Zugang der Medien zu kontrollieren und einzuschränken.

Die bewaffnete Gruppe muss unverzüglich alle Einschränkungen für die Medien aufheben und die Bereitstellung humanitärer Hilfe für alle betroffenen Gebiete erleichtern, so Amnesty International.

"Der Verlust von Menschenleben und die Verwüstung in Darna und anderen Teilen Libyens sind eine unvorstellbare Tragödie. Tausende Menschen werden noch vermisst und Zehntausende wurden vertrieben. Ganze Stadtteile und Familien sind ins Meer gespült worden. Doch anstatt sich darauf zu konzentrieren, den humanitären Zugang zu allen betroffenen Gemeinden zu erleichtern, greifen die LAAF wieder einmal auf ihre bewährte Repressionsmaschinerie zurück, um Kritik zum Schweigen zu bringen, die Zivilgesellschaft mundtot zu machen und sich der Verantwortung zu entziehen", sagte Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin von Amnesty International für den Nahen Osten und Nordafrika.

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"Die libyschen Behörden und diejenigen, die de facto die Kontrolle über die betroffenen Gebiete haben, müssen sicherstellen, dass die Menschenrechte im Mittelpunkt der Krisenreaktion stehen und keine Repressalien gegen Kritiker*innen erfolgen. In Krisenzeiten sind eine lebendige Zivilgesellschaft und unabhängige Medien unerlässlich, um das Recht der Überlebenden auf Leben, sichere Unterkunft, Nahrung, Gesundheit und Zugang zu Informationen zu gewährleisten", so Diana Eltahawy.

Amnesty International sprach mit Einwohner*innen von Derna, Journalist*innen, Mitarbeiter*innen von Hilfsorganisationen, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Mediziner*innen, die an der Krisenbewältigung beteiligt sind. Weitere Informationen erhielt Amnesty International von einem Vetreter der LAAF. Die Beschaffung von Informationen über die Lage in Darna wurde durch Unterbrechungen der Internet- und Telekommunikationsnetze erschwert.

Die Befürchtung, dass die LAAF auf die Krise mit ihrem üblichen harten Vorgehen gegen Kritiker*innen reagieren würden, wuchs nach der Festnahme von Jamal El Gomati. Er berichtete nur Stunden nach den Überschwemmungen live aus Darna. El Gomati beschuldigte Behördenvertreter*innen öffentlich der Korruption und dass sie verantwortlich sind für die Katastrophe.

Menschenrechtsaktivist*innen berichteten Amnesty International, dass bewaffnete Männer in Zivil, die vermutlich der mit der LAAF verbundenen bewaffneten Gruppe "Internal Security Agency" angehörten, ihn am 17. September in seiner Heimatstadt Shahhat im Bezirk Jabal al Akhdar im Nordosten Libyens festnahmen. Er war drei Tage lang Opfer des Verschwindenlassens , bevor er am 19. September nach Intervention eines prominenten LAAF-Kommandeurs freigelassen wurde.

Von Beginn der Krise an berichteten Journalist*innen, dass sie Sicherheitsüberprüfungen unterzogen wurden und andere Zugangsbeschränkungen erlebten. Außerdem mischten sich LAAF-Vertreter*innen in ihre Arbeit ein.

Zwei libysche Journalist*innen berichteten Amnesty International, dass lokale Beamte sie am 14. September anhielten und verhörten, bevor sie die Stadt verlassen mussten. Am 16. September wurde ein Aktivist aus Darna festgenommen, nachdem er einem Sender, der als LAAF-feindlich gilt, ein Interview über die Lage in der Stadt gegeben hatte. Dies berichteten Verwandte.

Nach den Protesten in Darna am 18. September wiesen die LAAF Journalist*innen an, die Stadt zu verlassen. Am nächsten Tag machten sie ihre Entscheidung rückgängig, wiesen aber die verbliebenen Journalist*innen an, sich nicht an die Rettungsteams zu wenden. Journalist*innen berichteten immer wieder, dass sie von militärischen Medienvertreter*innen der LAAF verfolgt wurden, und erlebten, wie Dolmetscher*innen von Behördenvertreter*innen aufgefordert wurden, keine behördenkritischen Inhalte zu übersetzen.

Ein UN-Sprecher teilte den Medien am 19. September mit, dass ein UN-Team "nicht befugt" sei, nach Darna zu reisen. Der Sprecher bestätigte jedoch, dass die in Darna anwesenden Rettungskräfte und humanitären Helfer*innen ihre Arbeit fortsetzen durften.

Amnesty International erhielt auch Berichte über Verzögerungen beim Eintreffen von Hilfsgütern in einigen betroffenen Gebieten. Diese Verzögerungen sind zum Teil auf die Vielzahl der von den LAAF errichteten Kontrollpunkte zurückzuführen. Außerdem erfuhr Amnesty, dass mindestens ein internationales Rettungsteam angewiesen wurde, das Land zu verlassen.

Die bei Tag entstandene Luftaufnahme zeigt eine durch Schlamm und Wasser zerstörte Stadt.

Schneise der Zerstörung: Die libysche Stadt Darna nach der durch den Sturm Daniel verursachten Überschwemmung (Aufnahme vom 15. September 2023).

Unabhängige Untersuchung

Nach den Überschwemmungen werden unter den Überlebenden und Menschenrechtsaktivist*innen die Rufe nach Rechenschaftslegung lauter, nachdem die rivalisierenden Regierungen jahrelang schlecht regiert und schlecht gewirtschaftet haben. Milizen und bewaffnete Gruppen, die ihre eigenen Interessen über Leben und Wohlergehen der Zivilbevölkerung in Libyen stellen, konnten ungehindert herrschen.

Vertreter*innen der Staatsanwaltschaft von Tripolis haben zwar Darna besucht und Ermittlungen angekündigt, doch das vorherrschende Klima der Straflosigkeit in Libyen gibt Anlass zu ernsten Bedenken hinsichtlich der Fähigkeit und Bereitschaft der libyschen Justiz, für Wahrheit und Gerechtigkeit zu sorgen.

"Wir haben immer wieder einen unabhängigen internationalen Untersuchungsmechanismus zur Menschenrechtslage in Libyen gefordert. Da es auf nationaler Ebene keine nennenswerten Aussichten auf Rechenschaftspflicht gibt, ist es dringend erforderlich, die Fakten und Umstände zu ermitteln, die zu den erschütternden Verlusten an Menschenleben und der Zerstörung im Gefolge des Sturms Daniel geführt haben. Dazu gehört auch die Untersuchung der Frage, ob die libyschen Behörden und diejenigen, die de facto die Kontrolle über die betroffenen Gebiete haben, es versäumt haben, die Rechte der Bevölkerung auf Leben, Gesundheit und andere Menschenrechte zu schützen", sagte Diana Eltahawy.

Mächtige Befehlshaber und Mitglieder von Milizen und bewaffneten Gruppen, die im begründeten Verdacht stehen, seit dem bewaffneten Konflikt von 2011 Verbrechen im Sinne des Völkerrechts begangen zu haben, genießen nicht nur völlige Straffreiheit. Sie wurden sogar in staatliche Institutionen integriert und erhalten staatliche Mittel. Das Vorgehen der LAAF gegen Proteste und Kritik zeigt, dass sie nicht gewillt sind, für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer zu sorgen.

Hintergrund

In Libyen herrscht seit 2011 ein bewaffneter Konflikt und eine politische Spaltung, mit Parallelregierungen, die von Milizen und bewaffneten Gruppen unterstützt werden, die ihre Legitimität beanspruchen. Die LAAF kontrollieren und üben regierungsähnliche Funktionen in Bengasi, der zweitgrößten Stadt Libyens, sowie in weiten Teilen Ost- und Südlibyens aus. Das brutale Vorgehen der LAAF, um abweichende Meinungen zu unterdrücken, die unabhängige Zivilgesellschaft einzuschränken und weitere Maßnahmen, um die Macht aufrechtzuerhalten, sind gut dokumentiert.

Am 11. September wurden Darna, Sousse, Bayada und andere Gebiete in der Region Grüner Berg von einer Katastrophe heimgesucht: Der Sturm Daniel (ein tropischer Wirbelsturm, der im Mittelmeerraum als Medicane bekannt ist) löste den Zusammenbruch zweier Dämme in der Stadt Darna aus, die seit Jahrzehnten nicht mehr gewartet worden waren.

Amnesty International hat zu einer sofortigen weltweiten Mobilisierung aufgerufen, um die Rettungs- und Wiederaufbaumaßnahmen in allen betroffenen Gemeinden ohne Diskriminierung zu unterstützen. Dabei muss gefährdeten Gruppen, einschließlich Flüchtlingen, Migrant*innen, Binnenvertriebenen und anderen, die vielfältigen Formen der Diskriminierung ausgesetzt sind, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.

Die LAAF und die mit ihr verbündeten bewaffneten Gruppen und Sicherheitskräfte hinderten Hunderte von Tawerghans daran, in ein Lager für Binnenvertriebene in Bengasi zurückzukehren, in dem sie jahrelang gelebt hatten und aus dem sie am 10. September vor dem Sturm evakuiert worden waren. Nach Angaben von Aktivist*innen durften andere Bewohner*innen in ihre Häuser in derselben Gegend zurückkehren.

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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