Amnesty Journal 05. Mai 2020

"Ich sehe nicht, dass die jetzige Situation uns vor eine Entscheidung stellt"

Interview mit der Philosophin Anna Goppel
Eine Frau mit braunem Haar schaut in die Kamera

Die Philosophin Anna Goppel ist Professorin an der Universiät Bern.

Welche Pflicht haben wir gegenüber Geflüchteten in Zeiten von Corona? Und wie sieht eine gerechte Migrationspolitik aus? Die Philosophin Anna Goppel gibt Antworten.

Interview: Lea De Gregorio

In Zeiten von Corona werden Flüchtlinge an den Grenzen gern vergessen. Haben wir denn ein Recht darauf, uns erst um die Gesundheitslage im eigenen Land zu kümmern, bevor wir uns den Belangen von Menschen auf der Flucht widmen?

Ich sehe nicht, dass uns die jetzige Situation überhaupt vor die Entscheidung stellt. Selbstverständlich haben wir ein Recht, uns um unsere Gesundheit zu kümmern. Und die Regierungen haben sicherlich die Pflicht, die Gesundheitsversorgung im eigenen Land zu gewährleisten. Gleichwohl haben wir die Pflicht, den Menschen, die auf der Flucht sind, zu helfen und Schutz zu bieten – auch jetzt.

Haben wir jetzt vielleicht sogar eine besondere Pflicht?

Wir sind generell verpflichtet, Menschen auf der Flucht zu helfen. Aber derzeit ist ihre Situation durch Corona natürlich problematischer als ohnehin. Man muss sich nur die Situation in den Camps vor Augen halten. Social Distancing ist dort in keiner Weise möglich, die Gesundheitsversorgung schlecht. Selbst Händewaschen, was bei uns zu den grundlegenden Dingen gehört, um sich zu schützen, ist häufig nicht möglich. Deshalb haben wir gerade noch dringlicher als ohnehin schon die Pflicht, den Menschen zu helfen und sie aufzunehmen.

Warum ist es aus philosophischer Sicht problematisch, wenn Staaten frei entscheiden, wen sie aufnehmen?

Ein zentrales Problem bei der Auswahl ist, dass sich die Kriterien, nach denen Staaten entscheiden, nicht notwendig mit dem decken, was moralisch geboten ist. Es besteht die Gefahr, dass Staaten eine Auswahl treffen, die für sie nützlich ist und nicht denjenigen hilft, denen aus moralischer Perspektive geholfen werden soll, nämlich Menschen, die Hilfe am dringlichsten benötigen. Mit Blick auf den Schutz von Menschen auf der Flucht besteht das Hauptproblem derzeit aber meines Erachtens nicht in der Auswahl. Das Hauptproblem ist, dass die meisten Staaten nicht einmal ihren Verpflichtungen gerecht werden, überhaupt genügend Geflüchtete aufzunehmen.

Deutschland und andere Länder haben  begonnen, unbegleitete Kinder aufzunehmen. Das wäre eine besonders hilfsbedürftige Gruppe.

Das ist eine sehr positive Entscheidung, die viele Staaten treffen sollten. Unbegleitete Kinder sind sicherlich eine Gruppe, die besonders hilfsbedürftig ist. Es gilt trotzdem zu betonen, dass Kinder nicht die einzigen sind, die dringend Hilfe brauchen. Und so ist die Aufnahme von Kindern nur ein kleiner Schritt, der aber wichtig und zu begrüßen ist.

Was müsste insgesamt passieren, damit Migrationspolitik gerecht wird?

Da sind zunächst einmal zwei Punkte wichtig: einmal die Bereitschaft, schutzbedürftige Menschen aufzunehmen und darüber hinaus das Bemühen, sichere Fluchtwege zu ermöglichen. Man könnte etwa das Botschaftsasyl wieder einführen, wie es in der Schweiz einmal bestanden hat – sodass man Asyl im Heimatland beantragen kann. Oder man macht auf andere Weise Fluchtwege möglich, die verhindern, dass Menschen sich in extreme Situationen begeben müssen, um ihrer Not zu entkommen.

Und außerdem?

Ich bin der Meinung, dass eine gerechte Migrationspolitik darüber hinaus freie Migration ermöglichen müsste. Die Chancen von Menschen sollten nicht davon abhängen, wo sie zufällig geboren wurden. Gerecht wäre eine Migrationspolitik in meinen Augen dann, wenn Menschen wichtige Lebensentscheidungen frei treffen könnten. Sie selbst sollten entscheiden können, wo sie mit wem in welcher Beschäftigung leben wollen – was derzeit für die meisten nicht möglich ist. 

Inwiefern sind dabei Nationalstaatlichkeit und das Recht auf Asyl in Einklang zu bringen?

Ich denke, grundsätzlich sind sie in Einklang zu bringen. Sicher bedarf es einer gewissen Koordination. Aber die bestehenden Staaten könnten mehr Menschen aufnehmen. Das Problem sehe ich derzeit eher in der fehlenden Bereitschaft der Menschen, Geflüchteten Schutz zu bieten. Es ist weniger die Nationalstaatlichkeit, die uns einen Strich durch die Rechnung macht, als die politische Einstellung vieler Menschen. Viele scheinen nicht zu sehen, dass man nicht nur darüber nachdenken muss, was für einen selbst gut wäre oder für das eigene Land, sondern auch darüber, was man Menschen schuldet, die in ihrem Heimatland keinen Schutz finden. Wenn man sich konkret vor Augen führen würde, wie das Leben für Flüchtlinge ist, wäre wahrscheinlich allen klarer, dass man diesen Menschen helfen muss.

 

Anna Goppel ist Professorin für praktische Philosophie mit Schwerpunkt für politische Philosophie an der Universität Bern. Sie ist Mitherausgeberin des Buchs "Migration und Ethik" (mentis).

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