Aktuell Blog 14. Mai 2020

Die Pandemie kann uns Mitgefühl lehren

Mädchen mit Schutzmaske schaut aus einem Fenster

Das Coronavirus verschärft die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft. Die Leidtragenden sind oft Menschen, die auch schon vor der Pandemie gesellschaftlich benachteiligt und ausgegrenzt wurden – allen voran Menschen mit Migrationshintergrund und Geflüchtete.

Am 28. April 2020 um 11 Uhr legten die Bewohner_innen und Pfleger_innen des Pflegeheims Surrey Hills in Großbritannien eine Schweigeminute zum Gedenken an Larni Zuniga ein, der vier Tage zuvor an COVID-19 gestorben war.

Larni Zuniga, ein 54-jähriger Krankenpfleger, der "von allen geschätzt" wurde und sich durch seinen "unvergleichlichen" Einsatz und sein Mitgefühl auszeichnete, war vor zwölf Jahren von den Philippinen gekommen und gerade erst britischer Staatsbürger geworden. Nach jahrelangem Warten hatte seine Frau endlich die nötigen Dokumente erhalten, um wieder bei ihm sein zu können. Sie sollte im Juni einreisen – wäre COVID-19 ihr nicht zuvorgekommen.

Diese und zahllose andere Tragödien offenbaren nicht nur das enorme Leid, das COVID-19 verursachen kann. Sie zeigen auch die Schieflage in unserer Gesellschaft, wo Menschen, die wichtige Arbeiten leisten – ältere Menschen oder Kinder betreuen, Straßen bauen, Lebensmittel liefern, Obst ernten oder Regale füllen – stets zu den am schlechtesten bezahlten gehören und sehr oft einen Migrationshintergrund haben. Diese Menschen verfügen nicht über den Luxus, von zu Hause arbeiten zu können, und sind deshalb viel stärker dem Virus ausgesetzt.

Wenn wir wollen, dass die Menschen sichere, reguläre – und nicht irreguläre – Einreisewege nutzen, müssen wir dafür sorgen, dass es diese sicheren Wege gibt.

Daran sollten wir denken, wenn wir behaupten, niemanden zurücklassen zu wollen. Migrant_innen, ebenso wie Obdachlose, Frauen und Kindern in Haushalten, in denen es zu Missbrauch kommt, Häftlinge in Gefängnissen und andere, sind in dieser Krise stärker gefährdet. Die Krise zeigt, wie sehr unsere Gesellschaften auf "gering qualifizierte", zum großen Teil von Migrant_innen verrichtete Arbeit angewiesen ist, und sollte Anlass geben, die Art und Weise zu überdenken, wie wir Mobilität künftig regeln wollen, sobald die Beschränkungen gelockert werden.

COVID-19 schränkt unseren Bewegungsspielraum seit ein paar Wochen ein, aber erst mit der Zeit wird sich zeigen, ob es langfristig Folgen für Migrationsbewegungen nach und in Europa gibt. Wenn die Beschränkungen länger gelten und die Arbeitslosenraten drastisch steigen, können wir mit einem geringeren Bewegungsaufkommen rechnen. Die Hauptfaktoren der Migration wie extreme Ungleichheit und das menschliche Verlangen nach einer Verbesserung der eigenen Lebensumstände werden jedoch nicht so bald verschwinden. Und aufgrund der Segmentierung des Arbeitsmarktes wird selbst in einem weniger wohlhabenden Europa immer noch Arbeitskräftemangel herrschen.

So hat beispielsweise die Erntesaison mit einem Mangel an Saisonarbeiter_innen auf den Feldern begonnen, weil Menschen aus osteuropäischen Ländern nicht reisen können. Jetzt müssen sie ohne Einkommen in Ländern bleiben, deren soziales Netz wesentlich schwächer ist. Aber auch den landwirtschaftlichen Betrieben bleibt nichts anderes übrig, als an die Regierungen zu appellieren, Migrant_innen ohne gültige Papiere, die sich in ihrem Land befinden, einen legalen Status zu verleihen.

Doch auch wenn die Legalisierung vorübergehend helfen kann, sind langfristig systemische Lösungen erforderlich. Wenn wir wollen, dass die Menschen sichere, reguläre – und nicht irreguläre – Einreisewege nutzen, müssen wir dafür sorgen, dass es diese sicheren Wege gibt.

Hinter einem Zaun stehen Zelte und behelfsmäßige Behausungen

Zelte im Flüchtlingscamp Moria auf der griechischen Insel Lesbos (Februar 2020)

 

Dass Regierungen nur dann an Migrant_innen denken, wenn sie diese brauchen, zeugt im Grunde von einem beschämenden Mangel an Einfühlungsvermögen für Menschen, die während der Pandemie besonders gefährdet sind. Wenn zumindest vorübergehende Legalisierungen notwendig sind, dann in erster Linie, um sicherzustellen, dass die Menschen Zugang zu grundlegenden Sozialleistungen erhalten, ohne Angst haben zu müssen.

Ein ähnlicher Mangel an Empathie herrscht auch an den europäischen Grenzen, an denen Tausende von Menschen wegen der europäischen Maßnahmen zur Corona-Eindämmung unter unerträglichen Bedingungen festsitzen.

Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich unter 34.000 Asylsuchenden, darunter ältere Menschen, Schwangere und Kinder, auf griechischen Inseln in Lager eingepfercht, die eigentlich nur für 6.000 Personen gedacht sind. Es liegt auf der Hand, dass die griechischen Behörden Asylsuchende auf das Festland überstellen und andere EU-Länder Aufnahmeplätze anbieten sollten. Dass einige unbegleitete Minderjährige in andere EU-Staaten gebracht werden, ist zwar positiv, doch nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Entsetzlich ist auch die Vorstellung, zu den Menschen zu gehören, die von der libyschen Küstenwache mit Unterstützung der EU ins von Konflikten gezeichnete Libyen zurückgebracht werden. Selbst wer das Glück hat, nicht in ein Gefangenenlager gebracht zu werden – wo willkürliche Inhaftierung die Regel und Folter wahrscheinlich ist –, wäre noch immer der Gefahr ausgesetzt, in einem Land mit schlecht ausgestatteten Krankenhäusern, die häufig Ziel militärischer Angriffe sind, an COVID-19 zu erkranken.

COVID-19 verschärft nicht nur die bereits dramatische Situation für Flüchtlinge und Migrant_innen, sondern bietet skrupellosen Regierungen auch Gelegenheit, die Festung Europa noch weiter auszubauen.

Tatsächlich verschärft COVID-19 nicht nur die bereits dramatische Situation für Flüchtlinge und Migrant_innen, sondern bietet skrupellosen Regierungen auch Gelegenheit, die Festung Europa noch weiter auszubauen. Italien und Malta haben die Politik der "geschlossenen Häfen" wieder eingeführt und die Menschen auf See im Stich gelassen.

Malta wird zudem vorgeworfen, eine geheime Flotte aus Fischereibooten aufgebaut zu haben, um Rückführungen in Richtung Libyen durchzuführen. Österreich, Zypern und Ungarn haben den Zugang zu Asyl eingeschränkt. Bosnien hat Tausende Menschen unter entsetzlichen Bedingungen in ein Lager gesperrt. Und die Liste könnte noch fortgesetzt werden.

Aktuell sollte die EU Menschen, die in Ländern gestrandet sind, die der Krise weniger entgegenzusetzen haben, humanitäre Hilfe zukommen lassen, anstatt noch mehr Schnellboote einzusetzen, um sie dort festzuhalten. Die EU sollte die Bedingungen für eine Aufnahme der Flüchtlinge in Europa schaffen, anstatt sie um jeden Preis fernzuhalten.

Und sie sollte mit dem Wiederaufbau von Systemen beginnen, die Migration und Asyl auf wirksame und humane Weise regeln. Systeme, die in der Lage sind, internationalen Verpflichtungen und den Anforderungen des Arbeitsmarktes nachzukommen, aber auch unserer gemeinsamen Verantwortung, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel, auch die Mobilität, zur Bekämpfung von Armut und Ungleichheit einzusetzen.

All diese Schwierigkeiten und Herausforderungen bieten aber auch die Chance für uns, von der Hingabe und dem Mitgefühl zu lernen, die Larni Zuniga ausmachten, einen Mann, der von weit her kam, um sich um uns zu kümmern, und der von seinen Freund_innen so sehr geschätzt wurde.

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