Aktuell Deutschland 09. November 2023

Deutschland: Gedenken an die Novemberpogrome bedeutet Handeln im Hier und Jetzt

Das Foto zeigt einen Mann inn einer Menschenmenge, der ein Schild hochhält, auf dem steht: "Stop Antisemitism".

Kundgebung gegen Antisemitismus vor dem Brandenburger Tor in Berlin am 22. Oktober 2023

85 Jahre nach den Novemberpogromen gegen jüdisches Leben in Deutschland herrscht hierzulande wieder ein Klima der Angst unter Jüdinnen und Juden. Im digitalen Raum und auf der Straße treten antisemitische Hassrede und Gewalt offen zu Tage. Amnesty International appelliert, Antisemitismus und Rassismus ernst zu nehmen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen und aktiv Solidarität zu zeigen.

Vor 85 Jahren, in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten Synagogen und weitere jüdische Einrichtungen in ganz Deutschland. Jüdische Menschen wurden ermordet, verhaftet, gedemütigt, misshandelt und vergewaltigt. Jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden demoliert, zerstört und geplündert. Für die entstandenen Schäden wurde die jüdische Bevölkerung auf perfide Weise gezwungen, eine Milliarde Reichsmark an das Deutsche Reich zu zahlen. Diesen Taten waren mehrere Gewaltausbrüche sowie eine Radikalisierung der antisemitischen Politik im selben Jahr vorausgegangen. Die Pogrome waren der unübersehbare Auftakt zur Shoa, der grausamen und systematischen Verfolgung und Vernichtung von Jüdinnen und Juden.

Das Gedenken an die Novemberpogrome muss mit dem Blick auf Antisemitismus in Deutschland im Hier und Jetzt einhergehen. Und dieser ist alarmierend: Die Statistik zu politisch motivierter Kriminalität des Bundesinnenministeriums und des Bundeskriminalamts weist in ihrer Jahresbilanz für 2022 allein 2641 antisemitisch motivierte Delikte aus. 2017 waren es noch 1504. Beratungsstellen und zivilgesellschaftliche Organisationen weisen seit Jahren auf Diskrepanzen zwischen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aufzeichnungen über antisemitisch und rassistisch motivierte Straftaten hin, sodass von einer noch höheren Zahl auszugehen ist. Auch die aktuelle Situation in Israel und den besetzen palästinensischen Gebieten infolge des brutalen Angriffs der Hamas seit dem 7. Oktober 2023 hat Auswirkungen auf das jüdische Leben in Deutschland. Sowohl im digitalen Raum als auch auf der Straße treten antisemitische Hassrede und Gewalt noch offener zu Tage. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS) verzeichnet 202 verifizierte antisemitische Vorfälle vom 7. bis zum 15. Oktober 2023.

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Es gibt heute keinen antisemitismusfreien Raum in keinem gesellschaftlichen Milieu in Deutschland. Zahlen zu antisemitischen Übergriffen im Jahr 2021 und 2022 der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin zeigen, dass diese aus allen Milieus heraus passieren und Verschränkung mit anderen Ideologien der Ungleichheit wie Rassismus vorkommen (RIAS Jahresbericht 2022). Versuche, für antisemitische Vorfälle vor allem muslimisch gelesene oder zugewanderte Personen verantwortlich zu machen, lenken von Antisemitismus in allen Bevölkerungsgruppen ab und befördern anti-muslimischen Rassismus.

Anlässlich des Jahrestages der Novemberpogrome sagt Julia Duchrow, Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland: "Wir gedenken der Opfer, Familien und Angehörigen der antisemitischen Gewalt vom 9. und 10. November 1938. 85 Jahre später dürfen wir nicht die Augen verschließen vor dem Klima der Angst, in dem jüdische Menschen heute um ihr Leben fürchten. Der Brandanschlag auf die Synagoge und das Gemeindezentrum der Kahal Adass Jisroel in Berlin im Oktober 2023 und der antisemitische und rassistische Anschlag 2020 in Halle sind dafür nur ausgewählte Beispiele. Deutschland geht nicht genug gegen Hasskriminalität und die zugrundeliegenden Ideologien der Ungleichwertigkeit von Menschen vor."

Vor 75 Jahren verabschiedete die Staatengemeinschaft die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als Versprechen und Antwort auf die Verbrechen und Gräueltaten der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Dieses Versprechen kann die Bundesrepublik nicht einhalten, wenn sie ihren Schutzpflichten gegenüber Jüdinnen und Juden nicht gerecht wird. Vielmehr ergreifen jüdische Menschen selber Maßnahmen für ihre Sicherheit. Beispielsweise werden erkennbare, jüdische Symbole von Häusern entfernt, der öffentliche Raum wird gemieden, Kinder werden nicht zur Schule geschickt, jüdische Restaurants bleiben geschlossen. Dass jüdische Menschen in Deutschland sich zu solchen Maßnahmen gezwungen sehen, sollte uns alle beschämen." 

Julia Duchrow fordert: "Die jüngsten Angriffe zeigen erneut den großen Handlungsbedarf gegen Antisemitismus – quer durch alle Bevölkerungsgruppen. Wir müssen die Erfahrungen von jüdischen Menschen in Deutschland sehen, beachten und ernst nehmen. Politik und Gesellschaft müssen den Menschen zuhören, die tagtäglich von Ausgrenzung, Hetze und Gewalt betroffen sind. Dabei muss insbesondere die strukturelle Dimension von Antisemitismus anerkannt werden und jüdische Personen und ihre Communities bei der Erarbeitung von Gegenmaßnahmen einbezogen werden. Es bedarf der langfristigen Förderung von Sensibilisierungs- und Bildungsangeboten, die Antisemitismus als strukturelles Problem adressieren, auch für staatlichen Einrichtungen. Die Unterstützung von jüdischen Communities sollte verstetigt werden.

Neben den brutalen und grausamen Angreifer*innen und staatlichen Akteur*innen gab es 1938 auch viele Beistehende, Nachbar*innen und Kund*innen, die ihren jüdischen Mitmenschen nicht zur Hilfe kamen. In einer Zeit, in der sich neuer Rechtsextremismus breit macht, in der Antisemitismus und Rassismus zunehmen, sind wir daher alle gefragt, nicht zu schweigen oder wegzuschauen, sondern aktiv unsere Solidarität zu zeigen."

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