Aktuell Deutschland 14. Dezember 2020

"Ich bin niemand Rechenschaft schuldig"

Porträt einer Frau, die ein Kopftuch trägt, vor einem Sofa und einer Wand mit vielen Bilderrahmen

Ob rassistische Sprüche bei der Arbeit im OP oder Anfeindung im Alltag: Die Medizinstudentin Gülcan Cetin ist ständig mit Rassismus konfrontiert. Im Internet berichtet sie über ihre Erfahrungen und erhält viel Rückmeldung. 

Im Supermarkt beschimpfte mich ein Mann einfach so als "Kanake". Da habe ich mich umgedreht und gesagt: "Können Sie bitte nochmal wiederholen, was sie eben gesagt haben?" Und als ich ergänzte: "Sie haben Kanake gesagt", sagte er, dass er "Attacke" gesagt habe.

Ob im Supermarkt, auf der Straße, in der U-Bahn: Rassismus begleitet mich überall im Alltag – vor allem auch im Beruf. 

Während meiner Ausbildung zur operationstechnischen Assistentin wurde ich im OP gefragt, ob ich unterdrückt werde. Eine andere Frage war, ob mein Vater erlaubt habe, dass ich Nacht- und Bereitschaftsdienste machen darf. Und als mich der Oberarzt zum ersten Mal außerhalb des OPs sah, sagte er: "Ich dachte, du bist eine intelligente und emanzipierte Frau." An dem Tag sah er mich zum ersten Mal ohne OP-Haube und mit Kopftuch.

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Diese Erfahrungen prägten meinen Arbeitsalltag: Einmal besprachen zwei Chirurgen die Operationsschritte mit den Worten: "Erst von vorne, dann von hinten – wie zu Hause." Alle im OP lachten schallend los – ich nicht. Daraufhin hieß es: Die kleine Muslimin versteht das nicht. Dabei fand ich es einfach nicht lustig, sondern sexistisch. 

Als ich nach der Ausbildung den Entschluss fasste, Medizin zu studieren, rieten mir Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen ab, weil ich doch sowieso irgendeinen Ahmed mit BMW heiraten, mit ihm einen Obstladen übernehmen und viele Kinder bekommen würde. 

Im Lauf meines Medizinstudiums habe ich dann auch von einem Professor Rassismus erfahren. Und von Patientinnen und Patienten habe ich immer wieder gehört, dass ich gut Deutsch spreche. Oft werde ich gefragt, wo ich geboren bin und ob ich zurück "in mein Land" gehen will. Ich antworte dann immer: "Ich bin doch Deutsche, wo soll ich denn hingehen? Das hier ist doch mein Land, ich bin in Hamburg geboren."

Ich werde so oft dazu genötigt, mich zu beweisen und zu rechtfertigen: Aber ich bin niemand Rechenschaft schuldig, der mich mit rassistischen Vorurteilen über muslimische Frauen konfrontiert. 

Ich werde so oft dazu genötigt, mich zu beweisen und zu rechtfertigen: Aber ich bin niemand Rechenschaft schuldig, der mich mit rassistischen Vorurteilen über muslimische Frauen konfrontiert. 

Gülcan
Cetin
Medizinstudentin

Ausschluss und Anfeindung erfahre ich schon seit Schulzeiten: Auch Lehrer haben mich oft rassistisch diskriminiert. Das begann schlagartig ab dem Zeitpunkt, als ich angefangen habe, Kopftuch zu tragen. 

Meine Erfahrungen in der Schule, während der Ausbildung und im Studium zeigen, dass Rassismus zum Alltag gehört. Das haben manche immer noch nicht verstanden. Mir ist klargeworden, dass ich das nicht mehr dulden möchte. Darum berichte ich im Internet über Rassismus. 

Ich habe auf Instagram eine große Reichweite. Auf eine einzige Story zu diesem Thema habe ich mehr als 3.000 Nachrichten bekommen. Meine Follower haben mir geschrieben, was ihnen selbst passiert ist. Viele Menschen sind von rassistischen Vorfällen so traumatisiert, dass sie sich für das schämen, was ihnen widerfährt. Aber schämen sollten sich dafür alle anderen, nicht sie. 

Protokoll: Lea De Gregorio

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