Aktuell Deutschland 29. November 2021

Keine Ausreden mehr! Warum eine Patentfreigabe im Kampf gegen Corona Leben rettet

Das Bild zeigt eine Autofahrerin, die durch das Fenster geimpft wird.

+++ Dieser Beitrag wurde am 2. Juni 2021 erstmals veröffentlicht und am 29. November 2021 aktualisiert. +++

Um schneller mehr Impfstoffe und andere medizinische Güter produzieren zu können, ist die Freigabe von Patenten unverzichtbar. Einige Länder, darunter Deutschland, blockieren allerdings eine Freigabe der Patente und verzögern so eine effektive Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Impfstoffe und Medikamente, Sauerstoff und Beatmungsgeräte, Schutzmasken und vieles mehr: All das wird dringend gebraucht, um weltweit Leben zu retten und die Corona-Pandemie zu beenden. Doch für die Menschen in vielen Ländern der Welt sind diese Güter knapp und nicht bezahlbar. 

Während in Deutschland und der Europäischen Union ca. 67 Prozent der Bevölkerung zweimal geimpft wurden, liegt dieser Anteil in Ländern mit niedrigem Einkommen bei lediglich 3 Prozent (Stand 29.11.2021). Um schneller mehr Impfstoffe und andere medizinische Güter produzieren zu können, ist die Freigabe von Patenten ein unverzichtbarer Baustein. Patente verknappen künstlich die Herstellungskapazität. 

Doch die Bundesregierung lehnt eine Freigabe von Patenten bisher ab. Amnesty International fordert die Bundesregierung deshalb auf, sich für einen zeitweisen Verzicht auf geistiges Eigentum auf diejenigen Produkte einzusetzen, die benötigt werden, um weltweit Herdenimmunität durch Impfungen zu erreichen und dabei Menschenleben zu retten. Einen entsprechenden Vorschlag haben Südafrika und Indien bereits im Oktober 2020 bei der Welthandelsorganisation (WTO) eingereicht.

Dieser sogenannte "TRIPS Waiver" wird unterstützt von über 100 Regierungen, dem Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation (WHO), 175 Nobelpreisträger_innen und ehemaligen Staats- und Regierungschef_innen, dem EU-Parlament, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen. TRIPS ist das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums.

Eine Minderheit der WTO-Mitglieder – darunter Deutschland – blockieren den Vorschlag Patente freizugeben. Dabei werden oft folgende Begründungen aufgeführt, die einer näheren Betrachtung nicht standhalten. Wir nehmen sie hier unter die Lupe: Keine Ausreden mehr!

Argumente gegen eine Patentfreigabe auf dem Prüfstand:

Nahaufnahme einer Frau mit Mundschutz, die eine Spritze ansieht, die sie mit ihrer linken Hand vor sich hält. Sie trägt einen Schutzhandschuh aus Gummi.
"Die Herstellung von Impfstoffen (insb. mRNA) ist zu komplex. Eine Patentfreigabe würde daher nicht zu mehr Impfstoffen führen."

Bei dem von Südafrika und Indien bei der WTO eingereichten Vorschlag für einen Patentverzicht geht es nicht nur um Impfstoffe, sondern auch um die Medikamente, Diagnostika (z.B. Corona-Tests) und anderen Produkte, einschließlich Schutzmasken und Beatmungsgeräte, die es zur Pandemiebekämpfung braucht. Viele dieser Produkte sind unkompliziert in der Herstellung. Auch hier gibt es eine Verknappung der Produktion durch Patente, so stieß z.B. die Herstellung von Masken im 3D-Druck in Italien auf patentbedingte rechtliche Schwierigkeiten. 

Aber auch bei der Herstellung von Impfstoffen ist davon auszugehen, dass eine Patentfreigabe die weltweite Produktion ankurbeln würde. Verschiedene Unternehmen etwa in Bangladesch, Kanada, Südafrika und Dänemark haben angekündigt, die Produktion im Falle einer Patentfreigabe aufnehmen zu können. Einige haben konkrete Zahlen genannt, etwa das kanadische Unternehmen Biolyse, das sich vergeblich um Lizenzen für die Impfstoffproduktion bemüht hat und nach eigener Aussage genug Dosen produzieren könnte, um 20 bis 50 Millionen Menschen jährlich mit einem Vektorimpfstoff zu impfen. Russland hat einen eigenen Vektorimpfstoff, China gleich zwei eigene Impfstoffe entwickelt. Länder wie Indien und Bangladesch haben eigene Produktionsstätten aufgebaut, der größte Hersteller von Impfstoffen weltweit befindet sich in Indien.

Suhaib Siddiqi, früher Direktor für Chemie bei Moderna, schätzt, dass Länder des globalen Südens in drei bis vier Monaten auch mRNA-Impfstoffe herstellen könnten. Die Afrikanische Union hat einen regionalen Plan für den Aufbau von Produktionsstätten für mRNA-Impfstoffe in Ruanda, Senegal und Südafrika vorgelegt. Dessen Umsetzung benötigt jedoch finanzielle Investitionen. Doch Investor_innen werden Geld nur dann zur Verfügung stellen, wenn sie keine Sorge vor Rechtsstreiten durch Patentverletzungen haben müssen. Fakt ist also: Zusätzliche Produktionskapazitäten existieren bereits, weitere würden aufgebaut, sobald Rechtssicherheit herrscht.

Die Erweiterung der Produktion kann durch die Patentfreigabe auch wirksamer erreicht werden, als durch den Aufbau einzelner neuer Produktionsstätten durch die bisherigen Impfstoffproduzenten: Es ist ein wünschenswerter Schritt, wenn diese ihre Produktion in den Globalen Süden ausweiten. Doch es kann nicht darauf gewartet werden, dass die federführenden Pharmaunternehmen hinreichend neue und global verteilte Produktionsstätten in Betrieb nehmen, die eine begrenzte Zahl von Impfdosen produzieren. Deutlich effektiver und schneller wäre es, wenn durch die Freigabe geistigen Eigentums Produktionskapazitäten unabhängig von den Entscheidungen der bisherigen Impfstoffproduzenten aufgebaut werden können.

"Es dauert zu lange, zusätzliche neue Produktionsstätten in Betrieb zu nehmen."

Richtig ist, dass eine Patentfreigabe nicht von heute auf morgen zu mehr Impfstoffen führen wird. Sie ist trotzdem dringend notwendig und sinnvoll: Nach derzeitigen Schätzungen wird die Mehrheit der Weltbevölkerung frühestens 2023 genug Impfstoffe zu Verfügung haben, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Herdenimmunität bedeutet, dass in einer Bevölkerung so viele Menschen gegen das Virus immun sind, dass Infektionsketten schnell wieder abbrechen. Selbst wenn es neun Monate dauern würde, um die Produktionskapazitäten merklich auszuweiten, würde die Patentfreigabe für die Mehrheit der Menschen weltweit noch einen großen positiven Unterschied machen. Um die Verbreitung des Corona-Virus auch langfristig weltweit in Schach zu halten, wird es außerdem auch in Zukunft immer wieder große Impfstoffmengen brauchen. Außerdem können nur durch schnelle Impfung aller Menschen weltweit weitere Mutationen verhindert werden, gegen die existierende Impfungen potentiell weniger wirksam sein können und die die Pandemie ebenfalls verlängern.

Der Vorschlag für eine Patentfreigabe bezieht sich zudem nicht nur auf Impfstoffe. Viele Medikamente, Diagnostika und Schutzausrüstungen sind wesentlich einfacher herzustellen als (mRNA-)Impfstoffe und die Produktionskapazitäten könnten sehr schnell ausgeweitet werden.

Mit jedem Monat, den die deutsche Bundesregierung einen Patentverzicht blockiert, verlängert sie die Zeit, die die Ausweitung der Produktion dauern wird. Der Vorschlag für die Freigabe von Patenten wurde im Oktober 2020 bei der WTO eingereicht. Hätten sich die WTO-Staaten schnell darauf geeinigt, so wären wohl bereits heute mehr Produktionsstätten in Betrieb.

"Statt einer Patentfreigabe brauchen wir mehr Lizenzvergaben, mehr Transfer von Technologie und Know-How und mehr Exporte und Spenden von Impstoff-Dosen an arme Länder."

Um die weltweite Pandemie zu beenden, müssen verschiedene Maßnahmen ineinandergreifen. Die Freigabe der Patente ist ein notwendiger Baustein in einer Reihe von Maßnahmen. Begleitend braucht es auch die Vergabe von Lizenzen (freiwillig oder verpflichtend), die Weitergabe von Technologien und Wissen zur Herstellung und natürlich auch das Teilen bereits produzierter Impfstoffe.

Für den notwendigen Transfer von Technologie und Know-How zur Impfstoff-Herstellung hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Plattform C-TAP (COVID Technology Access Pool) gegründet. C-TAP (für Impfungen) und der ebenfalls von der WHO gegründete Medicines Patent Pool (für COVID 19-Medikamente) würden es Patenthaltern ermöglichen, Lizenzen zu vergeben, ihr Wissen über die Herstellung zu teilen und dafür finanzielle Entschädigungen zu erhalten. Amnesty International fordert mit der internationalen Kampagne "100 Day Countdown" alle Unternehmen auf, dieser beizutreten, ihr Wissen zu teilen und Impfdosen fairer zu verteilen. Leider ist bisher kein einziges Unternehmen C-TAP beigetreten.

Ein weiterer wichtiger Baustein ist der Export von Impfstoffen in Länder, die ihre Impfstoffversorgung nicht selbst sicherstellen können. Dies geschieht im Rahmen der COVAX-Initiative. Die multilaterale COVAX-Initiative ist als Notfallmaßnahme allerdings nur dazu bestimmt, einen Bevölkerungsanteil von 20 Prozent in den am stärksten gefährdeten teilnehmenden Ländern bis Ende 2021 zu impfen. Dieses Ziel musste Anfang September bereits um 25 Prozent reduziert werden, auch weil Pharmaunternehmen ihren Lieferzusagen bisher nur unzureichend nachkommen. Initiativen wie COVAX können nur verteilen, was produziert wird - produziert wird jedoch zu wenig.

"Eine Patentfreigabe würde Pharma-Unternehmen den Anreiz zur Forschung und Entwicklung nehmen, da sie weniger Profite mit ihren Innovationen machen können."

Bereits jetzt haben Pharmaunternehmen mit COVID-19-Impfstoffen, Medikamenten und Diagnostika massive Profite gemacht. So ist beispielsweise der Umsatz des Unternehmens BioNTech im zweiten Quartal 2021 verglichen mit 2020 um das 130-fache gestiegen. Die Aussetzung des Patentschutzes würde nur temporär erfolgen. Amnesty International fordert eine Patentfreigabe, bis weltweit eine Herdenimmunität durch Impfungen erreicht werden konnte.

Für die Entwicklung der COVID-19-Impfstoffe haben Pharmaunternehmen zudem massive öffentliche Fördergelder erhalten. Die Bundesregierung hat über 750 Millionen öffentlicher Gelder für die Entwicklung und Produktion von Impfstoffen bereitgestellt. Maßgeblich mit Steuergeldern finanzierte Medikamente sollten auch dem Gemeinwohl dienen und nicht allein dem Profitinteresse der Unternehmen. Amnesty fordert Regierungen daher auf, die Vergabe öffentlicher Fördergelder zukünftig an Bedingungen über die Zugänglichkeit der Produkte zu knüpfen.

Übrigens: Profite primär über Patente abzusichern, führt häufig leider nicht zur Erforschung von Medikamenten gegen besonders schwerwiegende und weltweit verbreitete Krankheiten. Es gibt Pharmaunternehmen stattdessen einen Anreiz, an Problemen zu forschen, die besonders kaufkräftige Kundschaften in reichen Ländern betreffen. Dass das Patentsystem überhaupt zu mehr Innovationen beiträgt, ist zudem wissenschaftlich nicht belegt.

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