Aktuell Nord- und Südamerika 27. April 2022

Amerikas: Hohe Corona-Sterberate ist das Ergebnis jahrzehntelanger Ungleichheiten

Das Bild zeigt mehrere Särge und auf der rechten Seite einer Person mit Schutzkleidung

Regierungen in Lateinamerika und der Karibik müssen dringend stärker in die Gewährleistung der Rechte auf Sozialschutz und Gesundheit investieren. Nur so können sie die haarsträubende sozioökonomische Ungleichheit bewältigen, die während der Coronapandemie zu unverhältnismäßig hohen Sterberaten in der Region geführt hat. Dies fordern Amnesty International und die internationale NGO Center for Economic and Social Rights (CESR) in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der Bericht mit dem Titel "Unequal and Lethal: Five key actions to recover from the human rights crisis unleashed by the pandemic in Latin America and the Caribbean" erläutert, weshalb die Zahl der Coronatoten in Lateinamerika und der Karibik so viel höher liegt als in anderen Teilen der Welt. Obwohl dort lediglich 8,4 Prozent der Weltbevölkerung leben, entfallen ganze 28 Prozent aller globalen Covid-19-Todesfälle auf Lateinamerika und die Karibik. Aus dem Bericht geht hervor, dass die Länder, in denen die Ungleichheit besonders hoch ist und die Staatsausgaben für Gesundheit und Sozialschutz besonders niedrig liegen, während der Pandemie am stärksten mit negativen Folgen zu kämpfen hatten. Besonders hart traf es hierbei Bevölkerungsgruppen, die in der Vergangenheit ohnehin bereits ausgegrenzt wurden.

Eine menschenrechtsbasierte Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik ist der Schlüssel zur künftigen Vermeidung ähnlicher Katastrophen in dieser Region, in der die weltweit größte Ungleichheit herrscht. Trotz haarsträubender Ungleichheit und Armut haben die Behörden in Lateinamerika und der Karibik in den vergangenen Jahrzehnten weder genügend Steuern eingenommen noch die Gelder zielführend zur Bekämpfung von Ungleichheit eingesetzt – auch nicht in Zeiten des Konjunkturaufschwungs. Dies führte unweigerlich zur Unterfinanzierung von Gesundheits- und Sozialleistungen wie zum Beispiel Arbeitslosenhilfe, Rentenzuschüssen und Kindergeld – Leistungen, die für ein Leben in Würde und die Gewährleistung der Menschenrechte unverzichtbar sind.

"Die aktuelle Situation in Lateinamerika ist das Resultat von Hunderten von Jahren kolonialer Ungerechtigkeiten, die dazu geführt haben, dass bestimmten Gruppen seit langer Zeit systematisch ihre Rechte vorenthalten werden.

Erika
Guevara-Rosas
Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International

"Regierungen sind verpflichtet, aktiv die benötigten Ressourcen aufzubringen, um ihre Bevölkerung vor Diskriminierung, Krankheit und Wirtschaftseinbrüchen zu schützen. Wenn dies in Lateinamerika in den Jahrzehnten vor der Pandemie geschehen wäre, hätte man dort viel Leid und unzählige Todesfälle verhindern können", so Kate Donald, amtierende Geschäftsführerin von CESR. "Der Kontinent hat jetzt die Chance, durch den Umstieg auf eine rechtebasierte Wirtschaft die nächste durch Ungleichheit herbeigeführte Katastrophe zu verhindern."

Länder wie Mexiko, Brasilien und Peru, wo die reichsten 1 Prozent über mehr als 30 Prozent des nationalen Reichtums verfügen, verzeichneten pro Kopf die höchsten Covid-19-Todesraten in der Region. Ähnlich hohe Sterberaten hat Chile, wo die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung über zehnmal mehr Einkommen verfügen als die ärmsten 20 Prozent.

Zwar stellten viele lateinamerikanischen Länder während der Pandemie finanzielle Unterstützung für die Bevölkerung bereit, doch weiteten sie weder die Krankenversicherung aus noch unternahmen sie genug, um Mechanismen zur sozialen Absicherung umzusetzen oder diese auf die schutzbedürftigsten Bevölkerungsgruppen auszuweiten.

Die Folgen dieser Verfehlungen wurden primär von Frauen getragen, die häufiger als Männer ihre Arbeitsstelle verloren und die nach wie vor sehr viel häufiger für die Pflege von Kindern und Familienangehörigen zuständig sind, was ihre Grundrechte beeinträchtigt – insbesondere dann, wenn sie indigenen oder afro-amerikanischen Gemeinschaften angehören.

"Niemand sollte aufgrund der Hautfarbe oder geografischen Herkunft bessere oder schlechtere Chancen haben, an einer Infektionskrankheit wie Covid-19 zu sterben. Zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie verstehen die Regierungen in Lateinamerika offenbar noch immer nicht, wie dringend notwendig die Umsetzung eines menschenrechtsbasierten Ansatzes wäre, um eine Erholung von der Pandemie und die Bewältigung der Ungleichheit zu gewährleisten", sagte Erika Guevara-Rosas, Direktorin für die Region Amerikas bei Amnesty International.

Das Bild zeigt einen Hand in einem Handschuh, mit einer Impf-Ampulle

Impfstoffgerechtigkeit ist eine Frage der Menschenrechte.

"Die aktuelle Situation in Lateinamerika ist das Resultat von Hunderten von Jahren kolonialer Ungerechtigkeiten, die dazu geführt haben, dass bestimmten Gruppen seit langer Zeit systematisch ihre Rechte vorenthalten werden. Jetzt, da sich die Länder von der Pandemie erholen, müssen Regierungen sich dieser Sache annehmen und einen substanziellen Gleichstellungsansatz sowie gezielte Antidiskriminierungsmaßnahmen entwickeln und umsetzen."

Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation fordert Staaten auf, mindestens 6 Prozent des BIP für das Gesundheitswesen aufzuwenden, um eine flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Dennoch stellen fast alle Länder in der Region nur sehr viel niedrigere Summen für die öffentliche Gesundheit bereit, was zu einem Mangel an Krankenhausbetten, Ärzt_innen und Pflegekräften führt und zur Folge hat, dass mit Covid-19 und anderen Gesundheitskrisen nicht wirksam umgegangen werden kann. In Peru beispielsweise wurden die Mittel für das Gesundheitswesen in den zehn Jahren vor der Pandemie trotz jahrelangen Wirtschaftswachstums nicht erhöht und stagnierten stattdessen bei 3,3 Prozent des BIP. Und in Mexiko verloren in den zwei Jahren vor der Pandemie mehr als 15 Millionen Menschen den Zugang zu Gesundheitsleistungen, was auf bürokratische Ineffizienz in der Gesundheitspolitik zurückzuführen ist.

In Chile machen Steuern und Sozialabgaben lediglich die Hälfte der Ausgaben für das Gesundheitswesen aus. Die andere Hälfte wird direkt von Patient_innen beigesteuert, und zwar in Form von obligatorischen Vorauszahlungen und anderen Auslagen. Die Pro-Kopf-Ausgaben für das Gesundheitswesen liegen in Chile gerade mal bei einem Drittel des OECD-Durchschnitts, und das Land verfügt gemessen an der Bevölkerungszahl nur über halb so viele Krankenhausbetten wie der OECD-Durchschnitt.

Und selbst wenn Regierungen über politische Maßnahmen verfügen, die in der Theorie angemessen sind, scheitern sie doch häufig an der praktischen Umsetzung. Ein großes Hindernis ist hierbei die Beschaffung ausreichender Finanzmittel, um die Maßnahmen wirksam umzusetzen. Länder in Lateinamerika und der Karibik nehmen im Allgemeinen weniger Steuern ein als Länder in anderen Teilen der Welt mit einem ähnlichen Entwicklungsstand. Im Jahr 2019 machten in der Region die erhobenen Steuern durchschnittlich 22 Prozent des BIP aus, im Vergleich zu 33 Prozent in OECD-Ländern.

Hinzu kommt, dass viele lateinamerikanische und karibische Länder Besteuerungssysteme aufweisen, in denen die Reichsten nicht ausreichend besteuert werden. Dies trägt zusätzlich dazu bei, dass nicht genügend Mittel für die Bewältigung von Ungleichheit und die Umverteilung von Reichtum zur Verfügung stehen. So gibt es dort beispielsweise sehr viele indirekte Steuern, die als regressiv zu betrachten sind, da sie die Steuerlast vermehrt den ärmeren Bevölkerungsgruppen auferlegen. Gleichzeitig wird der Reichtum von Wirtschaftseliten nicht ausreichend besteuert.

"Länder in Lateinamerika müssen sich der Tatsache stellen, dass sie gemäß ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen mehr und gerechtere Steuern erheben müssen, wenn sie der aktuellen ungleichen sozioökonomischen Situation entkommen möchten, in der eine reiche Elite bevorzugt wird, während die Gesellschaft als Ganzes den Schaden davonträgt", mahnte Kate Donald.

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