Aktuell Erfolg 02. August 2018

"Nichts ist mächtiger als das geschriebene Wort"

Portrait von Eskinder Nega, der eine Kappe und ein Jacket trägt, im Hintergund steht ein großer Baum

Der äthiopische Journalist Eskinder Nega in der kenianischen Hauptstadt Nairobi im Mai 2018

Der bekannte äthiopische Journalist Eskinder Nega war schon neun Mal im Gefängnis, nur weil er seinen Beruf ausübte. Amnesty hatte sich jahrelang für seine Freilassung eingesetzt. Im Frühjahr 2018 endete seine bislang längste Haftstrafe. In diesem Brief an die Amnesty International spricht er über die Zeit im Gefängnis, wie er überlebt hat und warum die Stimme der Menschenrechte so wichtig ist.

Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer von Amnesty International,

ich wurde zufällig Journalist. Ich war zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt, als in Äthiopien die ersten unabhängigen Zeitschriften auftauchten. Ich wusste, dass wir nun den Schritt in die Meinungsfreiheit wagen und bisherige Grenzen erweitern mussten. Also begann ich Artikel zu schreiben, in denen ich den Machtmissbrauch der äthiopischen Regierung kritisierte. Meine Zeitung war die erste, die unter dem Pressegesetz strafrechtlich verfolgt wurde; mein Chefredakteur und ich wurden als erste ins Gefängnis gesteckt.

Inzwischen bin ich 48 Jahre alt. Seit 1993 bin ich neun Mal mit jeweils mehreren Anklagen in Haft gekommen. Ich habe fast ein Fünftel meines Lebens im Gefängnis verbracht – nur weil ich als Journalist gearbeitet habe. Als ich dieses Jahr freigelassen wurde, hatte ich sechs Jahre im Gefängnis verbracht. Ich bin ein friedliebender Mensch, trotzdem sprach mich die äthiopische Regierung terroristischer Vergehen schuldig. Solche Anklagen werden überall auf der Welt gegen Medienschaffende eingesetzt, die andere Ansichten vertreten als ihre Regierung und diese dadurch hinterfragen.

Ich kenne jede Facette des Gefängnisalltags. Ich war in dunklen Zellen eingesperrt, die weniger als zwei Quadratmeter groß waren. Wenn ich schlief, fühlte es sich an, als berühre mein Kopf die Wand und meine Füße die Tür. Es war so dunkel, dass ich die Hand nicht vor den Augen sehen konnte. Ich durfte nur zweimal am Tag die Toilette aufsuchen. Von einer Dusche war gar nicht erst die Rede.

Als mich der Staat wieder einmal wegen meiner journalistischen Tätigkeit weggesperrt hatte, folterten mich die Behörden. Sie schlugen mich auf die Fußsohlen, die häufigste Foltermethode der Welt. Doch damit nicht genug.

Sogar mein Sohn kam in Haft zur Welt. Die äthiopische Regierung hatte meine Ehefrau und mich nach den Wahlen von 2005 inhaftiert. Wir mussten ihn zu seiner Großmutter geben, weil die Haftbedingungen zu schlecht waren, um bei seiner Mutter bleiben zu können. Meine Ehefrau und ich sahen uns nur an Verhandlungstagen vor Gericht, ansonsten durften wir uns nicht sehen. Mein Sohn ist jetzt elf Jahre alt und lebt in den USA. Ich habe ihn seit meiner Inhaftierung im Jahr 2012 nicht mehr gesehen. Die Vorstellung, ihn zu sehen, ist toll  und beängstigend zugleich. Ich bin nicht perfekt und ich bin nicht der Held, für den er mich hält. Hoffentlich wird er nicht zu enttäuscht sein, wenn er mich kennenlernt.

Zuletzt sperrte mich die Regierung in das berühmt-berüchtigte Maekelawi-Gefängnis. Dort herrschten furchtbare Zustände. Es war völlig überbelegt, man konnte kaum einen Platz zum Schlafen finden und die sanitären Einrichtungen waren in einem unvorstellbar schlechten Zustand. Die Gefängniswärter haben mir das Schreiben verboten. Als ich weiter schrieb, wurde ich zum Unruhestifter und schwierigen Gefangenen erklärt und von den anderen Häftlingen getrennt.

Ich hatte mit niemandem Streit. Alles was ich tat, war zu schreiben. Ich kam in ein Gefängnis innerhalb des Gefängnisses. Der Bereich war drei Meter breit und neun Meter lang. Es gab keinen Platz, um sich die Beine zu vertreten. Sie nahmen mir die Bücher weg und ich bekam weder Stift noch Papier. Sie wollten mich nicht nur einsperren, sie wollten mich brechen.

Über vier Jahre lang versuchte der Staat, mich am Schreiben zu hindern, aber nicht alle Wärter unterstützten die Regierung und einige versorgten mich mit Papier und Stiften – ich war im Gefängnis gut bekannt; ich war ihr bester Kunde.

Als die Behörden das herausfanden, versuchten sie auch das zu unterbinden. Aber ich schrieb weiter, auf Karton, Papierfetzen, auf alles, was ich finden konnte. Irgendwann ging es nicht mehr darum, was ich schrieb, sondern dass ich nicht aufhörte zu schreiben. Wir Gefangenen wurden fast jede Woche durchsucht. Die Regierung tat alles, um mich zu brechen, aber es ist ihr nicht gelungen.

Ich las die Bibel, wann immer es ging. Meine demokratische Überzeugung hat mir durch die schwersten Zeiten geholfen.

Selbst in der dunkelsten Zelle wusste ich, dass Organisationen wie Amnesty International für mich eintraten. Das zu wissen, war sehr wichtig.

Über meine Familie erhielt ich auch die Solidaritätsschreiben von Amnesty. Das hat meine Moral gestärkt und die Stimmung meiner Familie verbessert.

Ich bin froh, dass ich Menschen dazu bewegt habe, mir zu schreiben. Das macht mich stolz. Nichts ist mächtiger als das geschriebene Wort. Ich bin ein Kind des First Amendment, in dem es heißt, dass jeder Mensch das Recht auf freie Meinungsäußerung hat und dass wir uns alle ohne Angst äußern können müssen.

2018 kam ich frei. Nicht weil die Regierung ihre Meinung geändert hat, sondern weil die Menschen in Äthiopien die Freilassung derjenigen forderte, die wegen ihres Engagements in den Bereichen Aktivismus, Journalismus und auf Blogs inhaftiert worden waren. Die Menschen setzten sich öffentlich für die Demokratie ein.

Als wir herauskamen, hatten wir diese Hoffnung – und wir hoffen immer noch, dass das, wofür wir standen und wofür wir das Opfer auf uns genommen hatten, endlich Wirklichkeit werden würde.

Wir kämpfen schon so lange für die Demokratie, ich bleibe Menschenrechtsaktivist und Journalist, bis wir unser Ziel erreicht haben. Die freie Meinungsäußerung ist die Grundlage unseres Rechts, die Grundlage der Demokratie. Sie ist die Grundlage für alles weitere.

Wir sollten unsere Meinung ohne Angst vor Repressalien äußern können. Es ist das Zeitalter der Demokratie. Ich werde nicht aufhören, ich gehe nicht ins Exil, ich werde nicht aufgeben. Ich habe nie in Frage gestellt, was ich tue – die Menschenrechte zu verteidigen, ist genau das Richtige, und bis wir in einem demokratischen Land leben, werde ich mich ungeachtet der Konsequenzen laut und deutlich äußern.

Ich werde denjenigen, die Amnesty unterstützen, immer dankbar sein. Macht weiter so. Ihr seid das Gewissen der Menschheit, die Stimme der Unterdrückten. Eine Stimme für die Menschenrechte muss es so lange geben, bis niemand mehr in Willkürherrschaft lebt.

Euer

Eskinder Nega

(ehemaliger gewaltloser politischer Gefangener)

 

Erstveröffentlichung im TIME Magazine.

 

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