Aktuell Ägypten 10. Januar 2012

Mittlerer Osten und Nordafrika: Ein Jahr der Rebellion

"Unnachgiebigkeit, trotz stetiger Versuche, die Proteste zu unterdrücken"

"Unnachgiebigkeit, trotz stetiger Versuche, die Proteste zu unterdrücken"

9. Januar 2012 - Auch im Jahr 2012 drohen Unterdrückung und staatliche Gewalt in den Ländern im Mittleren Osten und Nordafrika und dies solange, bis die Regierungen der Länder und die internationale Staatengemeinschaft auf die Forderungen der Demonstranten ernsthaft eingehen.

Amnesty International dokumentiert in ihrem Bericht über die Ereignisse des letzten Jahres in der arabischen Welt: "Year of Rebellion: State of Human Rights in the Middle East" das extrem gewalttätige Vorgehen gegen die Demonstranten und den Versuch der Regierungen in der Region, die noch nie da gewesenen Rufe nach grundlegenden Reformen zu unterdrücken.

"Bis auf wenige Ausnahmen haben die Regierungen die Veränderungen nicht erkannt. In der gesamten Region beweisen die Demonstranten, in den meisten Fällen sind dies junge Menschen und vor allem auch Frauen, eine überraschende Unnachgiebigkeit, trotz stetiger Versuche, die Proteste zu unterdrücken", sagt Ruth Jüttner, Expertin für den Mittleren Osten und Nordafrika bei Amnesty International. "Die Demonstranten haben gezeigt, dass sie sich nicht mit kosmetischen Reformen zufrieden geben. Sie fordern konkrete Änderungen in der Regierungsführung und verlangen, dass die Verantwortlichen für die Verbrechen der Vergangenheit zur Rechenschaft gezogen werden. Die ständigen Versuche der Staaten in der Region, sich mit halbherzigen Angeboten um echte Reformen zu drücken oder mit teils brutaler Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen, beweisen: viele Regierungen versuchen sich mit allen Mitteln an die Macht zu klammern.".
In Tunesien, Ägypten und Libyen wurden langjährige Machthaber gestürzt. Trotz anfänglicher Euphorie haben sich die Errungenschaften noch nicht verfestigt. Dafür sind institutionelle Reformen nötig, die garantieren, dass die Menschenrechtsverletzungen der Vergangenheit nicht wiederholt werden.

So hat in Ägypten der Militärrat immer wieder versprochen, die Forderungen der "Revolution des 25. Januar" umzusetzen. Doch die Menschenrechtsverletzungen haben nach dem Sturz von Hosni Mubarak zum Teil sogar zugenommen. Zwischen Oktober und Dezember 2011 wurden 84 Menschen im Zuge der gewaltsamen Niederschlagung von Protesten getötet. Gefangene werden weiterhin gefoltert und es wurden mehr Zivilisten vor Militärgerichte gestellt, als in den 30 Jahren unter Mubarak. Frauen wurden zur Zielscheibe von Demütigungen, um sie so von der Teilnahme an den Protesten abzuhalten. Im Dezember wurden zahlreiche Büros ägyptischer und internationaler Nichtregierungsorganisationen von Sicherheitskräften durchsucht ,um Kritiker der Regierung zum Schweigen zu bringen.

Amnesty International befürchtet, dass der Militärrat auch im Jahr 2012 versuchen wird, das Recht der Ägypter, zu demonstrieren und ihre Meinung frei zu äußern, einzuschränken.

Die Umwälzungen in Tunesien haben zu einer grundlegenden Verbesserung der Menschenrechtslage geführt. Doch ein Jahr nach dem Sturz von Ben Ali haben Viele den Eindruck, dass sich der Wandel zu langsam vollzieht. Familienangehörige der Opfer der Revolte warten immer noch auf Gerechtigkeit. Nach den Wahlen vom Oktober 2011 wurde eine neue Regierung gebildet. Moncef Marzouki, ein Menschenrechtsaktivist und ehemaliger gewaltloser politischer Gefangener, ist derzeit Übergangspräsident des Landes. Für das tunesische Volk ist es 2012 besonders wichtig, die Chance zu ergreifen, eine neue Verfassung zu entwerfen, die den Schutz der Menschenrechte und die Gleichheit vor dem Gesetz garantiert.

In Libyen erscheint es fraglich, ob der Nationale Übergangsrat in der Lage ist, die bewaffneten Milizen zu kontrollieren und die Wiederholung altbekannter Menschenrechtsverletzungen zu verhindern. Obwohl der Nationale Übergangsrat seine Anhänger dazu aufgerufen hat, keine Vergeltungsakte an mutmaßlichen Gaddafi-Anhängern zu verüben, mangelt es an klaren Verurteilungen schwerer Übergriffe durch anti-Gaddafi Milizen. Nach Schätzungen der UN werden etwa 7.000 Gefangene in provisorischen Haftzentren der revolutionären Truppen in Haft gehalten ohne Aussicht auf einen fairen juristischen Prozess.

In Syrien gehen Armee und Geheimdienste seit Monaten mit gezielten Tötungen und Folter gegen die Demonstranten vor, mit dem vergeblichen Versuch, sie einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen. Bis Ende 2011 verzeichnet Amnesty International über 200 getötete Gefangene. Das ist selbst für syrische Verhältnisse extrem und bedeutet eine vierzigfache Zunahme von Todesfällen in Gewahrsam im Vergleich zu den Vorjahren.

Die festgefahrene Situation im Jemen bezüglich der Präsidentschaftsfrage hatte schwerwiegende Auswirkungen für das Volk. Mehr als 200 Menschen wurden im Zusammenhang mit den Demonstrationen getötet, Hunderte starben in bewaffneten Auseinandersetzungen. Zehntausende mussten wegen den gewaltsamen Konflikten fliehen, was eine humanitäre Krise verursachte.

In Bahrain gab die Veröffentlichung des Berichts einer unabhängigen internationalen Expertenkommission über Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Protesten von Februar und März Anlass zu der Hoffnung, dass dies einen Neubeginn markieren könnte. Inwieweit die Regierung die Empfehlungen der Kommission umsetzen wird, bleibt bisher noch abzuwarten.

In Saudi-Arabien wurde ein Programm umfangreicher finanzieller Unterstützungen an Arbeitslose, Wohnungssuchende und staatliche Angestellte aufgelegt, um mögliche Proteste im Vorfeld zu verhindern. Trotz dieser Maßnahmen gingen die Demonstrationen Ende des Jahres weiter, vor allem im Osten des Landes.

Im Iran unterdrückte die Regierung weiterhin – weitgehend unbeachtet von der Medienberichterstattung – Regierungsgegner und schränkte die Informationsfreiheit weiter ein, vor allem für Journalisten, Blogger, unabhängige Gewerkschafter und politische Aktivisten.

Amnesty International kritisiert das Verhalten internationaler und regionaler Organisationen - wie der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga und der EU - zu den Entwicklungen in 2011 als widersprüchlich. In Libyen diente der Schutz der Menschenrechte als Legitimation für eine militärische Intervention. Aber zur Situation in Syrien verabschiedete der UN-Sicherheitsrat, der hauptsächlich von Russland und China blockiert wurde, nur eine schwache Erklärung, in welcher die Gewalt in Syrien verurteilt wurde.

Die Arabische Liga reagierte schnell, als sie die Mitgliedschaft Libyens im Februar aussetzte und später auch Syrien suspendierte und ein Beobachterteam ins Land schickte. Doch als saudi-arabische Truppen die bahrainische Regierung gegen die Demonstranten unterstützten, reagierte die Arabische Liga mit Schweigen.
"Die Unterstützung durch die Weltmächte für die Menschen im Mittleren Osten und Nordafrika war, wie üblich, uneinheitlich," sagt Ruth Jüttner. "Doch die Unerschütterlichkeit, mit der die Menschen in der Region für Würde und Gerechtigkeit kämpfen, das gibt uns Hoffnung für 2012".

Weiterlesen:

Amnesty-Bericht "Year of Rebellion: State of Human Rights in the Middle East" (PDF, Englisch)

Sonderseite "Proteste für den Wandel"

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