Studierende freilassen!

Ein grauer Wasserwerfer steht im Mittelpunkt des Bildes. Im Hintergrund, vor dem Tor der Bogazici-Universität befinden sich zahlreiche Polizist_innen in Kampfmontur und im Vordergrund des Bildes hat es viele protestierende Student_innen.

Protestveranstaltung gegen den von Präsident Erdogan ernannten Rektor Melih Bulu am 4. Januar 2021

36 Personen – überwiegend Studierende – befinden sich in Untersuchungshaft bzw. Hausarrest, weil sie an friedlichen Protesten infolge der Ernennung von Professor Melih Bulu zum Rektor der Bosporus-Universität in Istanbul am 1. Januar 2021 teilgenommen haben. Neun von ihnen sind in Untersuchungshaft; 27 weitere stehen unter Hausarrest. Sie haben lediglich ihr Recht auf friedliche Versammlung wahrgenommen und müssen deshalb umgehend und bedingungslos freigelassen werden.

Appell an

Mr Şaban Yılmaz

Çağlayan Meydanı

Şişli Merkez Mah.


Abide-i Hürriyet Cad. No: 223

Şişli / İstanbul

TÜRKEI

Sende eine Kopie an

Botschaft der Republik Türkei

S. E. Herrn Ali Kemal Aydın


Tiergartenstr. 19-21

10785 Berlin

Fax: 030-275 909 15

E-Mail: botschaft.berlin@mfa.gov.tr

Amnesty fordert:

  • Stellen Sie alle strafrechtlichen Ermittlungen gegen Demonstrant_innen ein, die friedlich ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlung wahrgenommen haben.
  • Fordern Sie die sofortige und bedingungslose Freilassung all derjenigen, deren Freiheit nur deshalb durch Untersuchungshaft oder Hausarrest eingeschränkt wird, weil sie friedlich ihre Menschenrechte ausgeübt haben.
  • Leiten Sie umgehend umfassende, unabhängige und unparteiische Ermittlungen zu allen Vorwürfen der Anwendung von rechtswidriger Gewalt und Misshandlung ein und stellen Sie die Verantwortlichen in fairen Verfahren vor Gericht.

Sachlage

Das Cağlayan-Gericht im Istanbuler Stadtteil Sisli hat Untersuchungshaft gegen zwei Studierende der Bosporus-Universität angeordnet, nachdem sie friedlich an einer Demonstration teilgenommen hatten. 14 weitere Personen wurden unter Hausarrest gestellt. Die beiden Studierenden wurden am 30. Januar 2021 im Zusammenhang mit einer Kunstausstellung auf dem Campus der Bosporus-Universität wegen vermeintlicher "Aufstachelung der Öffentlichkeit zu Feindschaft und Hass" in Gewahrsam genommen.

Gegen sieben weitere Personen – überwiegend Studierende – wurde zwischen dem 5. und 8. Februar durch das Anadolu-Gericht im Stadtteil Kartal in Untersuchungshaft angeordnet, weil sie im Stadtteil Kadıköy an friedlichen Protesten zur Unterstützung der Demonstrierenden der Bosporus-Universität teilgenommen hatten. Zudem wurden weitere 13 Personen unter Hausarrest gestellt.

Die Gerichte entzogen den Personen ihre Freiheit, weil sie an den überwiegend friedlichen Protesten teilgenommen haben, die anlässlich der Ernennung von Professor Melih Bulu zum Rektor der Bosporus-Universität stattgefunden hatten. Nach Angaben des Innenministers wurden seit Beginn der Proteste am 4. Januar in der gesamten Türkei mehr als 800 Demonstrierende in Polizeigewahrsam genommen, weil sie ihre Rechte auf friedliche Versammlung und freie Meinungsäußerung wahrgenommen haben. Hunderte wurden gerichtlich verfügten Einschränkungen unterzogen. Die Polizei ging mit unnötiger und übermäßiger Gewalt gegen die Demonstrierenden vor; mehrere Festgenommene sollen misshandelt worden sein.

Amnesty International vertritt die Ansicht, dass die unfairen Gerichtsentscheide zur Untersuchungshaft und zum Hausarrest das Recht der Demonstrant_innen auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung verletzen.

Hintergrundinformation

Hintergrund

Am 1. Januar 2021 ernannte Präsident Erdoğan den AKP-nahen Professor Melih Bulu zum Rektor der Bosporus-Universität (Boğaziçi Üniversitesi) in Istanbul. Die Ernennung des regierungstreuen Professors löste weitreichende Proteste von Studierenden und wissenschaftlichen Angestellten der Universität aus. Darüber hinaus fanden in mindestens 38 Provinzen des Landes friedliche Protestaktionen statt – diesen begegnete die Polizei mit unnötiger und übermäßiger Gewalt, um die Demonstrationen aufzulösen und Teilnehmende festzunehmen. Am 21. Februar gab der Innenminister bekannt, dass es 806 Festnahmen gegeben habe. Elf Personen wurden in Untersuchungshaft genommen, wobei zwei von ihnen nach fünf Tagen wieder freigelassen wurden. 27 Personen wurden unter Hausarrest gestellt. Hunderten wurden gerichtlich verfügte Einschränkungen auferlegt, darunter Reiseverbote und die Pflicht, sich regelmäßig auf einer Polizeistation zu melden.

Am 1. Februar gab Erdoğans Kommunikationsdirektor Fahrettin Altun in den Sozialen Medien bekannt, dass Rektor Melih Bulu dem LGBTI+-Club der Bosporus-Universität den "Kandidatenstatus" entziehen würde. Diese Entscheidung führte zur Schließung der seit Jahren aktiven Gruppe – mit der Begründung, dass zwei strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden seien, die den LGBTI+-Club beträfen. Eines der Verfahren richtete sich gegen zwei Studierende, denen wegen eines Kunstwerks "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft" vorgeworfen wurde. Das Kunstwerk zeigte die mythische Figur des Shahmaran auf einem Bild der heiligen Stätte Kaaba mit Regenbogenflaggen an den vier Ecken des Bildes. Es war bei einer Kunstausstellung ausgestellt worden, an der der LGBTI+-Club nicht beteiligt war. Die andere strafrechtliche Untersuchung unter dem Vorwurf der "Propaganda für eine terroristische Gruppierung" basierte auf einem Buch, das bei einer polizeilichen Durchsuchung im Büro des LGBTI+-Clubs gefunden worden sein soll. Die Durchsuchung hatte in Abwesenheit von Vertreter_innen des LGBTI+-Clubs stattgefunden. Mehrere hochrangige Beamt_innen äußerten sich im Zusammenhang mit zahlreichen Posts gegen das Kunstwerk in den Sozialen Medien homofeindlich über LGBTI+-Studierende. Die Tweets des Innenministers, in denen er LGBTI+ als "LGBT-Perverse" bezeichnete, wurden von Twitter zweimal gesperrt, weil sie gegen die Regeln der Plattform verstießen.

Am 26. Februar wurde eine Anklageschrift im Zusammenhang mit der oben beschriebenen Kunstausstellung auf dem Campus angenommen. Sie richtet sich gegen sieben Studierende und wirft ihnen gemäß Paragraf 216/1 des türkischen Strafgesetzbuches "Aufstachelung zu Hass und Feindschaft" vor. Zwei der sieben Angeklagten sind die Studierenden, die bereits am 30. Januar in Untersuchungshaft genommen wurden.

Nach türkischem Recht sowie laut der Europäischen Menschenrechtskonvention, der die Türkei als Vertragsstaat angehört, darf das Recht auf Versammlungsfreiheit nicht willkürlich eingeschränkt werden. Niemand darf wegen der Wahrnehmung dieser Rechte festgenommen werden.