Amnesty Journal Dänemark 05. Oktober 2015

Europas Grenze

Abschottungspolitik nach innen und außen: Flüchtlinge im ungarischen Grenzort Röszke

Abschottungspolitik nach innen und außen: Flüchtlinge im ungarischen Grenzort Röszke

Beim Thema Flucht und Asyl reagieren europäische Regierungen mit Abwehr und ­Abschottung. Überall in Europa werden Grenzen geschlossen und Zäune errichtet. Vor allem Ungarn schürt Angst vor "Überfremdung" und "falschen Flüchtlingen".

Von Ralf Rebmann und Andreas Koob

Stacheldraht und Gatter schließen die letzte Lücke des Grenzzauns an der ungarisch-serbischen Grenze nahe Röszke. Das Dorf war zuletzt zum Nadelöhr geworden für Flüchtlinge, die über die sogenannte Balkanroute Richtung Norden flohen. Sie suchen sich nun andere Wege, denn die ungarische Regierung will Flüchtlinge nach Serbien abschieben, das als sicheres Herkunftsland gilt. Für den illegalen Grenzübertritt drohen fortan Haftstrafen von bis zu fünf Jahren.

Es sind drastische Maßnahmen, die zugleich wenig verwundern: Die rechtsnationale ungarische Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán hatte schon zuvor mit Plakaten eine landesweite Kampagne gegen Flüchtlinge ­initiiert. Aber auch über die Grenzschließung hinaus bringt das osteuropäische Land erstaunlich viel Bewegung ins europäische Asyl­system.

Schon lange äußern ungarische NGOs Kritik an den Zuständen, denen Asylsuchende in Ungarn ausgesetzt sind. Die jüngs­ten Bilder, etwa aus Röszke, aus dem Lager in Bicske oder vom Budapester Ostbahnhof, machten die menschenverachtende Asyl­politik einer breiten ­Öffentlichkeit bekannt. Flüchtlinge wurden teilweise ohne Essen und Trinken, ohne sanitäre Anlagen und ohne Schlafmöglichkeiten festgehalten. Polizisten attackierten jene, die versuchten, der unerträglichen Situation zu entkommen.

Die verheerenden Konsequenzen der ­Dublin-Richtlinien, die seit Jahren vor allem in Griechenland deutlich sichtbar sind, offenbarten sich nun auch in Ungarn, wo die ­Eskalation zudem politisch gewollt scheint.

Europäisches Kontroll- und Sicherheitsparadigma

Während diese Zustände die Regierungen in Österreich und Deutschland zeitweise bewogen, Züge mit Asylsuchenden ent­gegen den Dublin-Regeln durchzuwinken und sogar Busse zu schicken, findet die Asylpolitik Ungarns vor allem in Osteuropa großen Anklang. Auch CSU-Chef Horst Seehofer lud Orbán zu sich ein und signalisierte Sympathie.

"Ungarn fährt schon lange eine Abschottungspolitik nach innen und außen", stellt Andreas Zick fest, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der ­Universität Bielefeld. "In den meisten anderen europäischen Ländern orientiert man sich ebenfalls an einem überbordenden Kontroll- und Sicherheitsparadigma." Orbán sei nicht allein, auch der britische Premierminister David Cameron habe schon früher gegen Migration und Multikulti gewettert.

Diese ablehnende Haltung hatte Cameron zuletzt Ende Juni bekräftigt. Mitarbeiter des Fährdienstes "MyFerryLink" hatten den Eingang zum Euro-Tunnel sowie eine Zufahrtsstraße zum Hafen von Calais blockiert. Die Aktion löste einen massiven ­Verkehrsstau aus. Hunderte Asylsuchende, die in der Nähe des Hafens in improvisierten Camps ausharrten, nutzten die Gelegenheit, um sich in den wartenden Lastwagen zu verstecken.

Die Entschlossenheit der Asylsuchenden, selbst unter Lebensgefahr nach Großbritannien zu gelangen, führte zu dramatischen Szenen. Im Laufschritt versuchten sie, die Hecktüren der Lkws zu öffnen. Manche schafften es bis auf das Dach eines Anhängers, an dem sie sich festklammerten. Der Großteil flüchtete jedoch vor intervenierenden Lkw-Fahrern und Polizeibeamten.

David Cameron forderte daraufhin "mehr Grenzschutz" und bezeichnete Asylsuchende als "Schwarm", der sich nach Großbritannien aufmache. Die britische Innenministerin warnte, dass Großbritanniens Straßen nicht "mit Gold gepflastert" seien. Dem rhetorischen Rundumschlag folgten schon bald ­Ankündigungen, die Sozialleistungen von Asylsuchenden in Großbritannien zu kürzen und irregulär eingereiste Personen gegebenenfalls zu inhaftieren.

Die Instrumentalisierung des Missstands

Dabei wurden im Vereinigten Königreich im zweiten Quartal 2015 lediglich 7.470 Asylsuchende registriert – ein "Schwarm" sieht anders aus. Dem Statistikdienst Eurostat zufolge beantragten im selben Zeitraum in der gesamten EU rund 213.000 Personen Asyl, davon 80.900 in Deutschland und 32.700 in Ungarn. Und um die europäische Hysterie ins Verhältnis zu setzen, lohnt sich ein Blick auf die Nachbarstaaten Syriens: Der Libanon hat bereits mehr als eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen, die Türkei rund zwei Millionen.

Die reflexartigen Abwehrreaktionen europäischer Regierungen beim Thema Immigration, Flucht und Asyl sind nicht neu. "In Europa hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg nie eine richtige Einwanderungs- und Immigrationspolitik entwickelt", sagt Konfliktforscher Zick. "Europa kommt mit den heutigen Wanderungen nicht zurecht. Wenn die Politik dann Stereotype über Immigranten bedient, will sie sich als kontrollfähig zeigen."

Die Instrumentalisierung echter oder behaupteter Missstände hat Konsequenzen. Steigende Asylzahlen werden so zur "Flüchtlingskrise" und zu einem "Problem", das "gelöst" und "bekämpft" werden muss. Im Visier stehen dann wahlweise "Wirtschaftsflüchtlinge" oder "kriminelle Schleuser". Eine ­Meinungsumfrage des Eurobarometers vom Mai 2015 spiegelt diese Rhetorik wider: 38 Prozent der Befragten gaben an, das "wich­tigste Problem" der EU sei derzeit die "Zuwanderung".

Zuspruch für flüchtlingsfeindliche Politik

Hier können populistische Parteien ansetzen und gleichzeitig das subjektive Gefühl der Bedrohung und Überforderung ­befeuern – wie in Dänemark, wo bei den Parlamentswahlen im Juni die rechtspopulistische Dänische Volkspartei als zweitstärkste Kraft ins Parlament einzog. Der Wahlkampf wurde von der Frage dominiert, welche Partei am effektivsten gegen Asyl­suchende vorgeht.

Ob Front National in Frankreich, Jobbik in Ungarn, Vlaams Belang in Belgien oder UKIP in Großbritannien: Rechte Parteien mit nationalistischer, anti-europäischer und auch rassistischer Rhetorik sitzen in zahlreichen Parlamenten. Seit 2015 sind in Finnland mit der Partei Wahre Finnen und in Griechenland mit Anel rechtspopulistische Parteien an der Regierung beteiligt.

In Frankreich, Großbritannien und Dänemark überflügelten bei den Europawahlen 2014 rechtspopulistische Parteien sogar die damals amtierenden Regierungsparteien. Auch wenn ihr ­tatsächlicher politischer Einfluss gering sein mag, rhetorisch können sie etablierte Parteien unter Druck setzen. Eine jüngst veröffentlichte Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zum Schluss, dass sich "Ton und Inhalte in der Einwanderungs- und Grenzkontrollpolitik" in diesen drei Ländern deutlich verschärft haben – vor allem durch den "anhaltenden Druck von rechts". Die Entwicklung in Ungarn zeigt, wohin das führen kann.

Ralf Rebmann ist freier Journalist, Andreas Koob ist Volontär des Amnesty Journals.

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