Die Macht des Volkes
Die amerikanische Musikerin und Lyrikerin Patti Smith hat dem Amnesty Journal eines ihrer seltenen Interviews gegeben. Ein Gespräch über Politik, Religion, Krieg, Meinungsfreiheit und Pussy Riot.
Fühlen Sie sich manchmal politisch machtlos?
Ich fühle mich als Person an sich nie machtlos, aber ich bin mir bewusst, dass es mehr als einer Person oder einer Handvoll Menschen bedarf, um Veränderung zu bewirken. Manchmal sind sogar Tausende Menschen nicht genug. Als US-Präsident Bush im Begriff war, den Irakkrieg zu führen, und wir uns gegen ihn gewandt haben, war es wirklich schwer, Menschen zu mobilisieren, weil sie so voller Angst waren. Ich habe mich nicht machtlos gefühlt, aber die Bevölkerung stand nicht hinter uns. Das ist wie bei großen Unternehmen: Sie sind so groß und korrupt und aggressiv, dass wir uns ganz klein fühlen, als ob wir nichts tun könnten. Und in vielerlei Hinsicht stimmt das auch. Es sei denn, wir halten zusammen. Das war auch Gandhis Philosophie. Er hat sich mit ganz einfachen Mitteln gegen das Britische Empire gewehrt, indem er zum Beispiel sein eigenes Salz gewonnen hat und seine Kleidung selbst webte. Aber hinter ihm standen Millionen von Menschen und das war es, was das Empire in die Knie gezwungen hat. Man kann Veränderungen nicht hervorbringen, wenn man nur mit halbem Herzen dabei ist. Ein Maler oder Dichter oder Musiker kann Menschen inspirieren und leiten, aber letztendlich hat nur das Volk die Macht, die Welt zu verändern.
In den vergangenen zwei Jahren gab es politische Umbrüche in Nordafrika und im Nahen Osten. Die Menschen fordern Demokratie und Meinungsfreiheit. Was würden Sie Diktatoren, die ihre eigene Bevölkerung unterdrücken, gerne sagen?
Ich würde nicht einmal darüber nachdenken, mit denen zu reden. Ich will mit den Menschen reden – was diese tun, ist beängstigend, weil sie ihr Leben riskieren, aber noch einmal: Es sind die Menschenmassen, die die Diktatoren stürzen werden. Das gilt auch für Russland, wo Präsident Putin und die Kirche die drei Frauen von Pussy Riot ins Gefängnis gesteckt haben, nur weil sie eine neue Form des Gebets geschaffen haben. Meine Botschaft richtet sich nicht an Putin oder die Kirche, sondern an das Volk: Die Menschen sollten das nicht einfach so hinnehmen. Für eine neue Generation sollte es absolut zulässig sein, neue Gebetsformen zu finden.
Jesus wurde gekreuzigt, weil er eine neue Art des Gebets eingeführt hat. Vergesst nicht: Die Kirche ist nicht unsere direkte Verbindung zu Gott; Putin ist nicht unsere direkte Verbindung zu Gott. Diese Kirchenoberhäupter sind nichts. Kein Präsident, kein Priester, kein Vorstandsvorsitzender ist irgendetwas ohne das Volk. Sie wären nichts anderes als ein König ohne Königreich. Die Menschen müssen erkennen, wie wichtig sie sind. Sogar Gott braucht ein Volk, denn erst durch unsere Liebe und unseren Glauben wird die Vorstellung von Gott verbreitet. Die Menschen sind wichtig.
Können Sie verstehen, dass manche empört darüber waren, dass die Band Pussy Riot ausgerechnet in einer Kirche protestiert hat?
Was ist eine Kirche? Ein von Menschen errichtetes Gebäude, in dem der Hirte und seine Schäfchen Unterschlupf finden sollen. Weder der Priester noch der Präsident haben in der Kirche das Sagen – Christus hat das Sagen. Würde Christus drei Frauen inhaftieren, weil sie ein Gebet aussprechen, das neu, aktuell und sogar revolutionär ist? Wer könnte ein revolutionäres Gebet besser verstehen als Christus? Er ist der ultimative Revolutionär! Punkt! Für mich sind deswegen sowohl der Patriarch als auch Putin Karikaturen. Besonders wütend und enttäuscht bin ich darüber, dass der Patriarch zugelassen hat, dass die Frauen inhaftiert wurden. Das Schlimmste ist die Arroganz, die sich in seinem Anspruch zeigt, es sei sein heiliges Gebäude und es gebe keinen Platz für andere Formen des Ausdrucks von Bedenken als die Rituale der Kirche selbst.
Das ist nicht das, was Jesus wollte. Menschen verhungern und leiden auf der ganzen Welt. Sollte Jesus zur Erde zurückkehren, würde er sich um diese Menschen kümmern, anstatt sich diese großen Gebäude und Kathedralen anzuschauen. Ihm wären Kirchen und Priester egal. Er hat die Stände der Händler vor dem Tempel umgestoßen und die Silbermünzen auf die Straße geworfen.
In vielen Ländern der Welt gibt es unfaire Gerichtsverfahren, bei denen Menschen auf Grundlage konstruierter Anschuldigungen bestraft werden…
Ja, es geht nicht nur um Pussy Riot. In den USA gibt es das auch. Nach zehn Jahren sind noch immer Hunderte ohne Anklage oder Urteil in Guantánamo Bay inhaftiert und erleiden dort Misshandlungen und schwere Verletzungen ihrer Rechte. Oder nehmen Sie das Beispiel John Walker Lindh [ein US-Staatsbürger, der als feindlicher Kämpfer 2001 in Afghanistan inhaftiert wurde. Anm. der Red.]. Er wurde zu 21 Jahren Haft verurteilt und zum Sündenbock für die Zeit nach dem 11. September gemacht, obwohl er keinen einzigen Amerikaner angeschossen oder getötet hat. Als er inhaftiert wurde, war er zwanzig. Jetzt ist er dreißig und um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen wurde ihm verboten, mit seinen muslimischen Brüdern zu beten. Er wurde völlig unverhältnismäßig bestraft und bittet die Nation um das Recht, in der Haft an gemeinschaftlichen Gebeten teilnehmen zu können. Warum bestraften wir Menschen auf diese Weise?
Da gibt es auch noch den Fall der friedlichen Aktivistin Rachel Corrie, die während einer Militäroperation gegen Palästinenser 2003 im Gazastreifen von einem israelischen Bulldozer getötet wurde. Meines Erachtens ähneln sich die drei Fälle, auch wenn man es nicht wirklich als Verschwörung bezeichnen kann: Israel hat die Armee von den Mordvorwürfen freigesprochen. Meine Regierung wird John Walker Lindh nicht mit seinen muslimischen Brüdern beten lassen. Und die russische Regierung inhaftiert drei junge Frauen, weil sie ein revolutionäres Gebet in einer Kirche abhalten. Die drei Beispiele zeigen aber auch, wie die junge Generation versucht, zu protestieren und die Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge zu lenken, die sie als falsch empfindet. Es sind alles junge Menschen, die von drei mächtigen Staaten – von Russland, den USA und Israel – gerichtet werden.
Die Menschen fragen sich manchmal, warum sich die junge Generation oft mutlos und verloren fühlt. Ich bin nicht nur wegen Pussy Riot wütend, sondern auch wegen der beiden anderen Fälle und vielen weiteren, von denen ich nichts weiß. Ich bin besorgt darüber, dass sich die junge Generation unfähig fühlt, denn sie wurde in eine so korrupte und allmächtige Welt hineingeboren, dass sie sich an niemanden wenden kann. Meine Botschaft an sie ist: Stützt euch gegenseitig! Sie können sich zusammentun – auch über die sozialen Medien – und können sich online treffen. Mit einem einzelnen Klick können sich Millionen junger Menschen aus der ganzen Welt zu einem bestimmten Thema oder für ein bestimmtes Ziel zusammentun. Sie haben viel mehr Macht als ihnen bewusst ist.
Wenn Sie auf den Anfang Ihrer Karriere zurückschauen, hätten Sie eine der Frauen von Pussy Riot sein können?
Ja. Auf meinem ersten Album "Horses" gab es ein Lied mit dem Titel "Gloria", darin hieß es: "Jesus ist für die Sünden von irgendjemandem gestorben, aber nicht für meine." Ich habe nach der Veröffentlichung Hassbriefe und Drohungen von Leuten erhalten, die behaupteten, Gottes Rache werde mich treffen. Wäre die Gesellschaft damals rigider gewesen, hätte ich sicherlich mit weiterreichenden Konsequenzen rechnen müssen. Aber trotz all ihrer Fehler legt die amerikanische Gesellschaft noch immer großen Wert auf die Meinungsfreiheit. Ich bin auf verschiedene Art und Weise bestraft worden – zum Beispiel erhielt ich keine Sendezeit im Radio. Und meine Platten wurden in manchen Staaten ganz verboten. Aber damit kann ich leben, solange ich dennoch das Recht habe, diese Dinge zu äußern und zu singen. Mein Album "Easter" wurde wegen des Lieds "Rock’n’
Roll Nigger" in vielen Südstaaten verboten. Die haben meine Texte nicht verstanden.
Man hat mir gesagt, ich würde nicht an Jesus Christus glauben. Ich habe ihnen erklärt, dass ich sogar sehr an Jesus glaube. Sein Name ist das allererste Wort auf meinem ersten Album. Das Lied war eine Reaktion auf die organisierte Religion. Später bin ich jedoch zu der Erkenntnis gelangt, dass Jesus kein Teil der "organisierten Religion" ist. Seine Botschaft hat gar nichts mit "organisierter Religion" zu tun. Im Wesentlichen sagt er nur, dass wir uns gegenseitig lieben sollen und uns anderen gegenüber so verhalten sollen, wie wir selbst behandelt werden wollen. Das ist ein unglaublich einfaches Konzept. Wir brauchen keine Tempel und Paläste und Hierarchien von Klerikern, die uns das sagen. Und würden die Kleriker selbst den Lehren Jesu folgen, würden sie Pussy Riot mit offenen Armen empfangen und versuchen, sie zu verstehen. Ich sage nicht, dass sie unbedingt ihre Musik mögen müssen. Aber sie sollten froh sein, dass diese Frauen in ihre Kirche kommen, um Erlösung zu finden. Die Kirche ist das Haus Jesu, nicht das der Kleriker. Ich würde diese Priester wirklich gerne fragen, ob sie glauben, dass Jesus diese drei Frauen aus der Kirche geworfen und sie für zwei Jahre ins Gefängnis gesteckt hätte. Was hätte Jesus getan?
Fragen: Ole Hoff-Lund, Redakteur des Magazins der dänischen Sektion von Amnesty International