Amnesty Journal China 27. September 2012

Massaker

Was blieb. Das chinesische Militär schlug die Revolte brutal nieder.

Was blieb. Das chinesische Militär schlug die Revolte brutal nieder.

Ein Gedicht von Liao Yiwu.

In ehrenvollem Gedenken an den 200. Jahrestag
der ­Französischen Revolution,
In ehrenvollem Gedenken an den 70. Jahrestag
der 4.-Mai-Bewegung,
In ehrenvollem Gedenken an die Opfer der Tragödie
vom 4. Juni 1989.

Und wieder veranstaltet das Zentralkomitee von Utopia ein ­Massaker.
Ist der Premier erkältet, muss das Volk husten, sonst verhängen wir den Kriegszustand
Ein altersschwacher Staatsapparat kennt kein Pardon für den, der aufmuckt und nicht krank sein will
Zu Tausenden fällt der unbewaffnete Mob
Profikiller in stählernem Rüstzeug baden im Blut, legen Brände unter geschlossene Fenster
Polieren sich die Stiefel mit den Röcken toter Mädchen ohne zu zittern.
Nein, herzlose Roboter zittern nicht
Sie sind nur auf eines programmiert: den zerfledderten Erlass in ihren Händen.
Im Namen des Vaterlands massakrieren wir die Verfassung
Im Namen der Verfassung massakrieren wir die Gerechtigkeit
Im Namen der Mütter erwürgen wir ihre Kinder
Im Namen der Kinder sodomieren wir die Väter
Im Namen der Ehefrauen meucheln wir die Ehemänner
Im Namen der Bürger setzen wir die Stadt in Brand
Feuer frei! Schießt! Schießt auf Alte, Kinder, Frauen
Auf Studenten, Arbeiter, Händler, schießt
Knallt sie ab, zielt auf diese wütenden Gesichter, die erstaunten, zuckenden, lachenden Gesichter, die verzagten und die ­gelassenen Gesichter, knallt sie ab
Macht kurzen Prozess
Wie schön und wie vergänglich sind die wie eine Welle ­heranwogenden Gesichter
Wie schön sind sie, die gleich Himmel und Hölle erblicken ­werden
Wie schön, Menschen in Fabelwesen zu verwandeln
Menschen verführen zum Vergewaltigen, Verleumden, ­Einsperren, Beschmutzen
Löscht alle Schönheit aus
Löscht Blumen, Wälder, Schulhöfe, Liebe, Gitarren und das ­zuviel an frischer Luft aus
Tilgt diese wilden Phantasien
Schießt, schießt! Welche Wonne
Das ist wie Marihuana rauchen, sich auf dem Klo erleichtern, sich in der Kaserne einen runterholen
Schießt, schießt! Welche Wonne
Köpfe durchlöchern, Haare versengen
Presst ihnen den Saft aus, die Seele
Besudelt die Brücken damit, die Tore, die Gitter, besudelt die breiten Alleen
Besprengt den Himmel mit neuen Sternen
Auf Menschenbeinen flüchtende Sterne
Himmel und Erde haben sich verkehrt. Funkelnde Stahlhelme überall
Truppen fallen mordend aus dem Mond. Schießt, schießt, schießt! Welche Wonne
Menschen und Sterne fallen zur Erde herab, Menschen und ­Sterne flüchten
Wer ist Mensch und wer ist Stern
Verfolgt sie bis in die Wolken, bis in jede Ritze, bis ins Mark
Noch ein Loch in ihre Seelen, durchlöchert die Sterne
Die Seelen in roten Röcke, die Seelen mit dem schmalen weißen Gürtel
Die Seelen, die in Turnschuhen Gymnastik machen
Hinterher! Wir werden euch aus der Erde ausbuddeln, euch aus der Luft und aus dem Wasser fischen.
Schießt, schießt! Welche Wonne
Ein Massaker an allen drei Welten. An den Vogelschwingen,
den Fischbäuchen, an jedem Staubkorn. Jede biologische Uhr nehmen wir uns vor
Springt, schreit, fliegt, lauft! Lauf! Du kommst doch nicht über die Feuerwand, durchschwimmst nicht die blutigen Tümpel
Welche Wonne
Freiheit ist geil
Die Freiheit zu würgen ist geil
Macht siegt immer, eine Generation übernimmt sie von der ­anderen.
Auch die Freiheit wird wieder auferstehen, mit jeder Generation auferstehen
Wie das schwache Leuchten vor der Morgendämmerung
Nein. Es gibt kein Leuchten. In der Zentrale von Utopia ist die Morgendämmerung nicht vorgesehen.
Unser Herz ist schwarz wie die Nacht. Schwarz und heiß wie
der Kremationsofen, in dem wir die Illusionen der Toten ­verbrennen.
Der Tag, an dem wir existieren können, an dem die uns ­Beherrschenden existieren können, geht bald zur Neige.
Welche Wonne, ruft freudig der Henker
Kinder. Ihr steif gefrorenen Kinder, ihr Kinder mit den ­Pflastersteinen in der Hand, lasst uns nach Hause gehen
Ihr Mädchen mit den blassen Lippen, lasst uns nach Hause ­gehen
Ihr todesmutigen Brüder und Schwestern, lasst uns nach Hause gehen
Lasst uns lautlos verschwinden
Nehmen wir die höher gelegene Straße
Immer geradeaus, bis wir irgendwo einen ruhigen Ort finden. Einen Ort, an dem Mann den Gewehrdonner nicht hört, ­irgendwo
Wir möchten uns in einen Grashalm verwandeln. In ein Blatt.
Onkel, Tante, Oma, Opa, Mama, ist es noch weit nach Hause?
Wir haben kein Zuhause.
Jeder weiß, Chinesen haben kein Zuhause. Zuhause ist eine ­zärtliche Sehnsucht.
Lasst uns an unserer Sehnsucht sterben. Schießt doch, schießt
Lasst uns in der Freiheit sterben. Gerechtigkeit, Gleichheit, ­Liebe, Frieden
So viel vergebliches Verlangen
Lasst uns zu unseren Sehnsüchten werden
Am Horizont stehen, und noch mehr Lebende dazu verführen, in den Tod zu gehen
Es regnet – sind das Regentropfen oder kristallene Ascheflocken
Lauf schnell, Mama. Lauf, Sohn. Lauft, Brüder. Komm lauf, ­kleiner Bengel, du und ich, wir sterben wie Brüder.
Ein Henker kennt kein Pardon.
Henker, barmherziger Henker
Verschone doch bitte diese Frauen und Kinder
Verschone bitte diese Frau und dieses Kind
Willst du den Chinesen nicht einen Samen übriglassen, nur ­einen einzigen
Ich flehe dich an, Henker, erbarme dich. Schon naht drohend der Tag.
Schießt, schießt! Welche Wonne
Schreit schreit schreit schreit schreiiit!
Wenn du noch nicht umzingelt bist, wenn dir noch ein letztes bisschen Kraft bleibt: schrei
Dein Schrei soll dich überleben, im Radio, im Fernsehen, per ­Radar
Zeuge für jeden mörderischen Angriff
Dein Schrei soll dich überleben, als Pflanze, als Halborganismus, Mikroorganismus
Soll zu weißen Blüten werden, die sich alljährlich öffnen zum Andenken an die Toten
Zu deinem Andenken
Lass deinen Schrei verfälschen, brechen, vom Kampfgeschrei der Kreuzzüge übermannt werden
Aber schrei
Die Schlächter kommen von allen Seiten der Stadt, von Osten, Westen, Süden, Norden
Ihre metallenen Helme funkeln. Sie singen im Chor:
Im Osten geht die Sonne auf, im Westen geht die Sonne auf, im Süden ...
In diesem stinkenden Tyrannensommer singen Menschen und Dämonen im Chor:
Geh nicht nach Osten, geh nicht nach Westen, geh nicht nach Norden und nicht nach Süden.

Wir stehen im Licht und sind doch blind
Wir stehen auf einer breiten Straße und können doch keinen Schritt tun
Wir sind teil eines Aufruhrs und sind doch stumm
Wir leiden an Durst und weigern uns doch zu trinken

Ewiggestrige, in die Enge Getriebene, die versuchen, die Sonne abzuschießen
Du hast nur dein Schreien, du schreist noch, schreiiist
Schrei
Sie erdrosseln dich, dehydrieren dich, stecken dich in Brand. Und du schreist
Du gibst auf der Bühne eine Farce, wirst öffentlich vorgeführt, doch du schreist
Deine Augäpfel explodieren, verletzen die umstehenden Gaffer, doch du schreist
Du setzt einen Preis auf deine Ergreifung aus, stellst dir eine ­Falle und nimmst dich fest,
Sagst, dass du im Unrecht bist, diese ganze kurzlebige ­Generation im Unrecht ist, doch du schreist
Man trampelt dich platt wie ein weichgeklopftes Schnitzel,
du schreist
Man dreht dich durch den Fleischwolf, du schreist
Restlos verputzt von einem Hund, schreist du noch aus dem Hundebauch
Schrei
Dieses beispiellose Massaker überleben nur die Hundesöhne.

Aus dem Chinesischen von Karin Betz

Quelle: LiteraturNachrichten Afrika Asien Lateinamerika
Ausgabe Nr. 105/Sommer, 2010 www.litprom.de

Liao Yiwu
Massaker: Dieses Gedicht brachte ihm Folter und Haft, aber es machte ihn auch international bekannt. Unmittelbar nach dem Massaker der von Deng Xiaoping befehligten chinesischen Volksbefreiungsarmee an Demonstranten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989 nahm Liao Yiwu zusammen mit dem britischen Sinologen Michael Day ein Protestgedicht zum Gedenken der Opfer auf. Das Gedicht "Massaker" wurde auf Vermittlung von Day von einem ausländischen Radiosender ausgestrahlt und im Untergrund verbreitet. Liao Yiwu wurde festgenommen und der "Verbreitung konterrevolutionärer Propaganda mit ausländischer Hilfe" angeklagt. Es folgten Inhaftierung und Folter und ein Publikationsverbot in der VR China. Mehrmals wurde dem Autor die Ausreise zur Teilnahme an Lesungen im Ausland, wie bei der Frankfurter Buchmesse 2009 verweigert. Seit Sommer 2011 lebt Liao Yiwu im deutschen Exil. Anfang Oktober ­erscheint sein neues Buch "Die Kugel und das Opium". Auch dieses Buch behandelt die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Mitte Oktober erhält Liao Yiwu den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

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