Amnesty Report Niger 24. April 2024

Niger 2023

Eine Menschenschlange auf einem sandigen Platz vor einem Gebäude

Migrant*innen vor dem Büro der International Organization for Migration (IOM) in der nigrischen Stadt Arlit am 29. März 2023 

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Im Juli 2023 putschte sich das Militär an die Macht und schränkte die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit massiv ein. Nach dem Putsch wurden einige hochrangige Politiker*innen willkürlich in Haft genommen, und mehrere Frauen wurden Opfer sexualisierter Gewalt durch Jugendliche. Bewaffnete Gruppen verübten rechtswidrige Angriffe und töteten dabei Zivilpersonen. Kinderehen waren nach wie vor weit verbreitet. Migrant*innen, die Algerien nach Niger abgeschoben hatte, lebten unter prekären Umständen. Die Rechte auf Bildung, Nahrung und Wasser waren durch den bewaffneten Konflikt und die Auswirkungen des Klimawandels beeinträchtigt.
 

Hintergrund

Im Juli 2023 stürzte die nigrische Armee Präsident Mohamed Bazoum und bildete eine provisorische Militärregierung (Conseil national pour la sauvegarde de la patrie). Das Militär setzte Präsident Bazoum und seine Familie im Präsidentenpalast fest und beschuldigte ihn im August des "Hochverrats". Als Reaktion auf den Putsch schlossen die Mitgliedstaaten der Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten (ECOWAS) die Land- und Luftgrenzen zu Niger und setzten alle Finanz- und Handelstransaktionen mit dem Land aus. 

Starke Regenfälle führten 2023 zu Überschwemmungen, von denen nach Angaben des Ministeriums für humanitäre Hilfe und Katastrophenmanagement 161.252 Menschen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Mindestens 51 Menschen kamen ums Leben, und fast 2.207 Hektar Anbaufläche wurden zerstört.

Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit

Am 5. Juni 2023 schlossen die Behörden die Wochenzeitung L’Évènement wegen ausstehender Steuerzahlungen. Der Herausgeber, Moussa Aksar, war seit 2020 drangsaliert worden, nachdem er Artikel veröffentlicht hatte, die dem Verteidigungsministerium vorwarfen, durch überhöhte Abrechnungen für Militärausrüstung öffentliche Gelder veruntreut zu haben.

Am 26. Juli 2023 löste das Militär spontane Demonstrationen von Unterstützer*innen des Präsidenten in der Hauptstadt Niamey gewaltsam auf. Die Militärregierung untersagte nach dem Putsch politischen Parteien bis auf Weiteres alle Aktivitäten.

Am 30. September 2023 nahmen maskierte Männer, die sich als Angehörige der Sicherheitskräfte ausgaben, die Journalistin Samira Sabou im Haus ihrer Mutter in Niamey fest. Man brachte sie zur Kriminalpolizei in Niamey und erhob Anklage wegen "Erstellung und Verteilung von Informationen, die die öffentliche Ordnung stören könnten". Sie wurde am 11. Oktober freigelassen, ihr Gerichtsverfahren stand jedoch noch aus.

Am 3. Oktober 2023 wurde Samira Ibrahim, die in den Sozialen Medien als "Precious Mimi" bekannt war, wegen der "Erstellung von Informationen, die die öffentliche Ordnung stören könnten", zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 300.000 CFA-Francs (etwa 460 Euro) verurteilt. Grund war ein Beitrag auf Facebook, in dem sie festgestellt hatte, dass Algerien die Militärregierung nicht anerkenne.

Willkürliche Inhaftierungen

Am 23. Januar 2023 musste Abdoulaye Seydou wegen "Erstellung und Verteilung von Informationen, die die öffentliche Ordnung stören könnten", vor dem Hohen Gericht in Niamey erscheinen. Der Koordinator der zivilgesellschaftlichen M62-Bewegungund der Organisation REPPAD (Réseau Panafricain pour la Paix, la Démocratie, et le Développement) hatte den Tod von zwei Goldminenarbeitern während einer Militäroperation in Tamou 2022 angeprangert. Die Staatsanwaltschaft ließ die ursprüngliche Anklage fallen und beschuldigte ihn stattdessen der "Mittäterschaft bei Brandanschlägen auf Schuppen und Häuser, die als Unterkünfte dienen". Nach dem Gerichtstermin wurde Abdoulaye Seydou inhaftiert und im April 2023 zu neun Monaten Haft verurteilt. Nach einem Rechtsmittelverfahren kam er im Juli frei.

Das Militär inhaftierte nach dem Putsch mehrere Mitglieder der gestürzten Regierung und Funktionär*innen der vormaligen Regierungspartei ohne Anklage. Neben Präsident Bazoum und seiner Familie zählten dazu der Minister für Erdöl Sani Mahamadou Issoufou, Innenminister Hamadou Adamou Souley, Verteidigungsminister Kalla Moutari und Finanzminister Ahmad Jidoud. 

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Am 2. Februar 2023 töteten Mitglieder der bewaffneten Gruppe Islamischer Staat Provinz Sahel (IS Sahel) im Dorf Egarek in der Region Tahoua zehn malische Flüchtlinge. Aufgrund des Konflikts in der malischen Region Ménaka hatten bis Februar 2023 mehr als 8.000 Menschen aus Mali Schutz in Niger gesucht.

Am 2. Mai 2023 tötete eine lokale Miliz im Dorf Kandadji (Region Tillabéri) mindestens 17 Zivilpersonen der Gemeinschaft der Fulani, die verdächtigt wurden, mit dem IS Sahel zusammengearbeitet zu haben. 

Lokalen Quellen zufolge tötete der IS Sahel bei einem Angriff auf die Dörfer Tomare und Issile Kotogoria in der Region Tillabéri am 15. August 2023 mindestens 20 Zivilpersonen der Gemeinschaft der Songhai.

Rechte von Frauen und Mädchen

Kinderehen waren nach wie vor weit verbreitet. Das gesetzliche Mindestheiratsalter für Mädchen lag weiterhin bei 16 Jahren, obwohl Niger bei der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat (UPR-Prozess) im Jahr 2021 eine Erhöhung auf 18 Jahre zugesagt hatte. Laut staatlicher Statistikbehörde wurden mehr als drei Viertel der Frauen vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet.

Im März 2023 nahm sich ein 16-jähriges Mädchen aus Daré in der Gemeinde Matameye (Region Zinder) das Leben, um einer Zwangsehe zu entgehen.

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt

Nach Angaben der Polizei und der Frauenrechtsorganisation La Ligue Nigérienne des Droits des Femmes wurden in der ersten Woche nach dem Putsch mindestens vier Frauen Opfer sexualisierter Gewalt durch Jugendliche, die durch die Straßen von Niamey patrouillierten. Ende 2023 war noch keiner der Täter angeklagt worden.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Die Internationale Organisation für Migration teilte mit, dass von Januar bis April 2023 etwa 9.000 Flüchtlinge und Migrant*innen aus verschiedenen westafrikanischen Ländern, die aus Algerien abgeschoben worden waren, im nigrischen Grenzdorf Assamaka eintrafen, 200 Kilometer von der nächstgrößeren Stadt Arlit entfernt. Im April 2023 stellte ein Bericht der UN fest, die bestehenden personellen, logistischen und finanziellen Ressourcen in Niger reichten nicht aus, um die Migrant*innen zu versorgen. Weil Algerien regelmäßig westafrikanische Staatsangehörige abschob, überstieg die Zahl der Flüchtlinge die der Dorfbewohner*innen in Assamaka. Dies beeinträchtigte die Gesundheitsversorgung, den Schutz und die Lebensmittelversorgung beider Gruppen. 

Im Dezember 2023 hob die Regierung ein Gesetz aus dem Jahr 2015 auf, das die Schleusung von Migrant*innen unter Strafe gestellt hatte.

Recht auf Bildung

Infolge des bewaffneten Konflikts war das Recht auf Bildung stark eingeschränkt. Laut der Regionaldirektion für Bildung waren im Juni 2023 landesweit fast 958 Grundschulen geschlossen oder nicht in Betrieb, davon 891 in der Region Tillabéri. Aufgrund der Schulschließungen war das Recht auf Bildung für mehr als 81.500 Kinder nicht gewährleistet. 

Recht auf Nahrung und Wasser

Der bewaffnete Konflikt und extreme Wetterereignisse verstärkten 2023 die Ernährungsunsicherheit und Wasserknappheit, was sich negativ auf die Rechte auf Nahrung und Wasser auswirkte. Nach Angaben der internationalen Hilfsorganisation International Rescue Committee betraf dies 2,5 Mio. Menschen. Laut UNICEF waren schon vor dem Putsch schätzungsweise 1,5 Mio. Kinder unter fünf Jahren unterernährt, mindestens 430.000 von ihnen so schwer, dass man von einer Gefahr für ihr Leben ausging.

Das UN-Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) teilte im Oktober 2023 mit, dass 58 Prozent des Finanzmittelbedarfs für die Umsetzung des humanitären Reaktionsplans in Niger noch nicht gedeckt waren.

Weitere Artikel