Amnesty Journal 21. April 2023

Where the streets have no (Arabic) name

Eine Straße in Israel, an einem Haus hängt ein Banner, auf dem der Straßenname auch auf Arabisch zu lesen ist, Abu Isa.

Eine Gruppe palästinensischer und israelischer Kulturschaffender setzt sich dafür ein, die ­palästinensische Geschichte in Jaffa sichtbarer zu machen. Ihr Mittel: selbstentworfene Banner in drei Sprachen, die die bestehenden Straßenschilder ergänzen.

Von Miriam Amro

Eigentlich ist es nur ein Stück Stoff: 60 Zentimeter breit, 70 Zentimeter lang und spitz zulaufend. Es erinnert an die Wimpel von Sportvereinen und bietet genug Platz, um in großer Schrift "Karima Abbud Street" darauf zu schreiben. Oder "Al Butma Street". Auf Arabisch, auf Hebräisch und auf Englisch. Weiß auf leuchtendem Türkis. Man kann die dreisprachigen Wegweiser nicht übersehen. Über hundert von ihnen hängen mitlerweile in Jaffa von Balkonen oder sind unter Fensterfronten und neben Straßenschildern angebracht.

Wer durch die historische Stadt in ­Israel spaziert, die hippen Cafés und ­Restaurants besucht, trifft auf die Rabbi Yohanan Street oder auf die Olei Zion Street. Doch sind 30 Prozent der Bewohner*innen Jaffas Palästinenser*innen, die sich kaum mit Straßennamen identifizieren, die an jüdische Persönlichkeiten oder die israelischen Staatsgründung 1948 erinnern – oder mit einer schlichten Nummer bezeichnet sind. Dabei hatten viele Straßen ursprünglich arabische Namen. Die Resh Galuta hieß einst Al-Kutub, die She’erit Yisra’el war als Abu Ubeyda bekannt, und die Olei Zion ersetzte die Al-Salahi.

Verdrängte Kulturgeschichte beleben

"Mehr als 400 Straßen haben einen hebräischen Namen und nur 16 Straßen und Gassen einen arabischen. Und schon das war ein Kampf", erklärt die palästinensische Grafikdesignerin Nawal Arafat, die die Banner entworfen hat. Sie ist Mitglied der Gruppe "Jaffa Street", die aus fünf palästinensischen und israelischen Aktivistinnen besteht. Die Umbenennung der arabischen Straßennamen habe zu ­einer Verdrängung der palästinensischen Kultur und einer Entfremdung der palästinensischen Einwohner*innen von ihrer eigenen Lokalgeschichte geführt, sind sich die Frauen sicher. Sie beschlossen deshalb, die verdrängte Kulturgeschichte wieder auf die Straße und in das Bewusstsein der Bewohner*innen und Tourist*innen zu bringen. Die Banner sollen deutlich machen, dass Jaffa, die älteste Stadt am Mittelmeer, nicht nur israelisch ist, sondern auch eine palästinensische Geschichte hat.

Ins Leben gerufen wurde das Kulturprojekt im Frühjahr von der Israelin Rachel Hagigi. Die Künstlerin wurde in Jerusalem geboren und lebt seit 15 Jahren in Jaffa. Ihre Wahrnehmung der Stadt änderte sich, als sie vor fünf Jahren begann, Arabisch zu lernen. "Auf einmal habe ich die Menschen auf der Straße, meine palästinensischen Nachbarn, verstanden. Meine Realität wurde plötzlich eine andere", erzählt sie. "Ich habe mich gefragt: Wie hieß die Yehuda HaYamit Street in Jaffa eigentlich vor 1948? Und die Shivtei Israel Street?"

Zwei Frauen sitzen auf dem Boden und arbeiten an Bannern aus Plane, auf die arabische Straßennamen gedruckt sind.

Die Benennung der Straßen Jaffas hat eine lange, verworrene politische Geschichte, erklärt der Historiker und Autor Daniel Monterescu. "Nach der Staatsgründung 1948 wurden die Straßennamen zunächst in Nummern umgewandelt. Die zweite Phase begann 1950, als man die Straßennamen in Gruppen einteilte, die nach historischen Persönlichkeiten wie Michelangelo, Puschkin oder Pestalozzi benannt wurden oder biblische Namen erhielten wie Yefet, Ben Ahituv und Shaare Nikanor." Es gebe auch Namen mit Bezug zur jüdischen und zionistischen Geschichte wie Yehuda Margoza oder Shivtei Yisrael und eine Handvoll Persönlichkeiten aus der arabischen Geschichte wie Ibn Rushd und Abd al-Ghani. Dass arabische Namen nur spärlich vertreten sind, sei ein ständiger Quell der Spannung und Teil eines Kampfes um den nationalen und kulturellen Charakter städtischer Räume in gemischten Städten wie Jaffa, sagt der Historiker. Denn Straßennamen definierten "räumliche Texte", die Ereignisse und historische Persönlichkeiten im lokalen kollektiven Gedächtnis verankerten. "Die palästinensischen Anwohner*innen verlangen, dass Straßen auch an Menschen und Orte aus der Zeit vor 1948 erinnern und damit die Erinnerung an die Nakba wachrufen – als während des Krieges von 1947 bis 1949 mehr als 700.000 Araber*innen aus ihren Häusern flohen oder vertrieben ­wurden."

Kulturkampf im städtischen Raum

"Viele Menschen in Jaffa wissen gar nicht, was hier früher war", stellt Nawal Arafat fest, weil sie in der Schule nichts darüber lernen. Das gilt für Palästinenser*innen wie für Israelis. "Namen zu ­entfernen und durch andere zu ersetzen, bedeutet, eine Sprache, ein Erbe, eine Kultur auszuradieren." Eine militante Antwort wäre, die Uhr zurückzudrehen und die ursprünglichen Namen wiederherzustellen. Doch die Aktivistinnen haben sich für ­einen zukunftsorientierten Ansatz entschieden: "Wir fanden das Wort Koexistenz furchtbar. Koexistenz kann es nur geben, wenn Gleichheit herrscht. Aber das ist absolut nicht der Fall. Weder in ­Jaffa noch sonst wo in Israel", erklärt ­Nawal Arafat. Dennoch sei ihr Ziel nicht die erneute Annullierung der bestehenden, sondern die Schaffung einer gemeinsamen Präsenz im öffentlichen Raum.

Ursprünglich hätten sie geplant, neben den aktuellen Straßenschildern zusätzliche Schilder mit den historischen Namen der ausradierten Straßennamen aufzustellen, ergänzt die Co-Sprecherin der Gruppe, Rachel Hagigi. Ohne eine ­Genehmigung der Stadt wäre dies jedoch illegal gewesen. "Der Bürgermeister von Tel Aviv-Jaffa hätte nur zugestimmt, wenn es sich um ein vorübergehendes Festival oder etwas ähnliches gehandelt hätte." Es sei kein Zufall, dass es im Namensgebungskomitee der Gemeinde kein einziges arabisches Mitglied gebe. Deshalb ­beschlossen die Frauen, Schilder in Form von kleinen, spitzen Bannern anzufertigen und Hausbesitzer*innen zu überzeugen, sie an ihren Balkonen und Fenstern zur Straße hin aufzuhängen.

"Karima Abbud Street" hängt nun in Englisch, Hebräisch und Arabisch am Gartentor von Nour Garabli. Die Palästinenserin hat das türkisfarbene Banner mit transparenten Kabelbindern vor ihrem Haus in einer Seitenstraße festgebunden. Es erinnert an die palästinensische Fotografin Karima Abbud, die 1893 in Nazareth geboren wurde. Vor einem Jahrhundert fotografierte sie in Palästina Menschen, Landschaften und Gebäude. Eine Identifikationsfigur nicht nur für ­palästinensische Israelis oder arabische Feministinnen, sondern auch ein Reflexionsangebot für alle Menschen, die nach Jaffa kommen.

Miriam Amro ist freie Journalstin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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