Amnesty Journal Ägypten 28. November 2013

Land in Aufruhr

Seit der Absetzung von Staatspräsident Mohamed Mursi überschlagen sich in Ägypten die Ereignisse und die ­politisch motivierte Gewalt ist eskaliert. Angriffe auf ­religiöse Minderheiten und sexuelle Übergriffe auf Frauen haben ebenfalls dramatisch zugenommen.

Von Alexia Knappmann

Wie angespannt die Lage in Ägypten seit der Amtsenthebung von Präsident Mohamed Mursi am 3. Juli 2013 ist, zeigt der deutliche Anstieg politisch motivierter Gewalt. Allerdings war es bereits im Vorfeld immer wieder zu gewalttätigen und teilweise tödlichen Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern Mursis gekommen.

Einen Tag nach der Entmachtung Mursis, der seitdem an ­einem unbekannten Ort festgehalten wird, wurde der Oberste Verfassungsrichter Adli Mansur als Übergangspräsident vereidigt. Am 9. Juli wurde der ehemalige Finanzminister Hazem al-Beblawi zum Chef der neuen Übergangsregierung ernannt.

Zwar hieß es von Seiten der neuen Übergangsregierung, die Muslimbrüder und die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei müss­ten in den Übergangsprozess einbezogen werden. Viel dazu beitragen konnten diese aber nicht, da zahlreiche Führungsmitglieder und Vertraute der Muslimbrüder festgenommen wurden. Auch der Aufruf des Verteidigungsministers zu Demonstrationen, um das Militär in seinem Kampf gegen "Terrorismus und Gewalt" zu unterstützen, stand im Widerspruch zur Versöhnungsrhetorik. Immer wieder entlud sich die Spannung in Gewalt. So wurden am 5. Juli in Alexandria mindestens 17 Menschen bei Zusammenstößen getötet – Anhänger wie Gegner Mursis. Sicherheitskräfte erreichten den Ort erst, nachdem bereits mehrere Menschen ihr Leben verloren hatten. Der 19-jährige Mohamed Badr al-Din wurde erstochen und von Unterstützern Mursis von einem Dach geworfen. Am 19. Juli wurden zwei Frauen und ein Mädchen von unbekannten Angreifern während einer Demonstration für den abgesetzten Präsidenten in der Stadt Mansoura erschossen.

In Kairo wurden zudem mehrere Fälle von Folter durch Anhänger des abgesetzten Präsidenten bekannt. Mindestens acht Leichname wurden mit deutlichen Folterspuren in Kairoer Leichenhallen gebracht. Fünf von ihnen wurden in unmittelbarer Nähe der Pro-Mursi-Proteste gefunden. Einer der Überlebenden dieser Übergriffe, der 21-jährige Mastour Mohamed Sayed, beschrieb Amnesty eindrücklich, wie er in der Nähe eines Sit-ins am Rabaa al-Adawiya-Platz am 5. Juli von Mursi-Anhängern angegriffen, gefangen genommen und mit Elektroschocks traktiert wurde: "Ich hatte schreckliche Angst vor den Waffen, die sie auf mich gerichtet hielten. Sie packten mich. Sie nannten uns 'Ungläubige'. Dann wurden wir zum Sit-in gefahren. Ich wurde auf den Boden geworfen. Schließlich wurden wir unter einem Podest festgehalten. Ich wurde mit Stangen geschlagen und bekam Elektroschocks. Ich habe ein paar Mal das Bewusstsein verloren." Er berichtete auch, dass er und weitere Mitgefangene gefragt worden seien, warum sie General Abdel Fattah al-Sisi unterstützten. Erst am folgenden Tag wurde er freigelassen. Nach Beobachtungen von Amnesty International fanden Gefangennahmen und Folter von Anti-Mursi-Demonstranten meist unmittelbar nach gewaltsamen Zusammenstößen beider Lager statt.

Gewalt gegen Demonstrierende
Auch die Sicherheitskräfte und das Militär gingen in den Wochen nach der Absetzung von Mohamed Mursi wiederholt mit exzessiver und unverhältnismäßiger Gewalt gegen Demonstrierende vor. Die Situation eskalierte am 14. August, dem blutigsten Tag seit der Revolution im Jahr 2011. Landesweit wurden allein an diesem Tag mehr als 600 Menschen getötet, als Sicherheitskräfte gewaltsam die Sitzblockaden von Unterstützern des abgesetzten Präsidenten in Kairo auflösten. Dabei spielten sich dramatische Szenen ab. Ärzte berichteten, dass viele Menschen starben, weil zahlreiche Verletzte nicht medizinisch versorgt werden konnten. In der Leichenhalle von al-Zinhoum versuchten Verwandte verzweifelt, die Leichname ihrer Angehörigen mit Eis zu kühlen, während sie auf eine Autopsie warteten. Als Reaktion auf die gewaltsamen Räumungen der Sitzblockaden riefen Mursi-Anhänger zu landesweiten Protesten auf. Dabei kam es erneut zu Zusammenstößen. Nachdem die Sitzstreiks von Mursi-Anhängern durch Polizei und Armee geräumt worden waren, griffen Demonstranten in den folgenden Tagen in verschiedenen Städten Regierungsgebäude, Polizeistationen sowie Sicherheitspersonal an. Die brutale Reaktion der Sicherheitskräfte und der Einsatz tödlicher Munition waren unverhältnismäßig.

In den folgenden Tagen wuchs die Zahl der Toten auf mehr als 800 Menschen an, 3.800 Personen wurden verletzt. Sicherheitskräfte und Militärs unterschieden dabei nicht zwischen ­gewalttätigen und gewaltlosen Demonstranten, weshalb auch unbeteiligte Zuschauer getötet wurden. Vor dem Einsatz von Schusswaffen wurden die Demonstranten nicht ausreichend ­gewarnt, ein sicherer Ausweg für Verletzte wurde nicht gewährleistet. Stattdessen wurden sogar Feldkrankenhäuser von den ­Sicherheitskräften angegriffen. Zudem gab es Berichte über Misshandlungen von Gefangenen durch Angehörige der Sicherheitskräfte, Festgenommene wurden teilweise geschlagen und erhielten Elektroschocks.

Anstieg der Gewalt gegen koptische Christen
Seit der Absetzung von Mohamed Mursi, insbesondere aber seit der gewaltsamen Auflösung der Protestlager seiner Anhänger, gab es aus mehreren Städten Berichte über zahlreiche Angriffe auf koptische Christen, ihre Kirchen, Geschäfte und Häuser. Dabei wurden mehrere Menschen getötet. Am 5. Juli 2013 griff eine bewaffnete Menschenmenge in der Nähe von Luxor innerhalb von 18 Stunden mehr als hundert Häuser und Geschäfte von Christen an. Trotz wiederholter Hilferufe griffen die lokalen Sicherheitskräfte nicht effektiv ein, um die Gewalt zu beenden. "Der Angriff dauerte 18 Stunden. Es gab nicht eine Tür, an die ich nicht geklopft habe: Polizei, Militär, lokale Funktionäre, die Bereitschaftspolizei, das Gouvernement. Nichts wurde unternommen", sagte Pater Barsilious, ein Priester aus Dab’iya.

Vier koptische Männer kamen bei dem Angriff ums Leben, weil Sicherheitskräfte lediglich Frauen und Kinder evakuierten, die Männer jedoch wissentlich der gewaltbereiten Menschenmenge überließen. Vier weitere Männer wurden schwer verletzt. Zwischen dem 14. und dem 20. August zählte die Organisation "Maspero Youth Union" landesweit 38 Kirchen, die niedergebrannt wurden und weitere 23 Kirchen, die teilweise zerstört wurden. Dutzende Häuser und Geschäfte wurden geplündert oder niedergebrannt. Die jüngsten Berichte über religiös motivierte Gewalt gegen koptische Christen sind auch deshalb sehr beunruhigend, da Anlass zu der Annahme besteht, sie könnten aufgrund einer unterstellten oder angenommenen Gegnerschaft zu Mohamed Mursi – und damit aus Vergeltung – ins Visier geraten sein. Die Gewalt gegen Angehörige der koptischen Minderheit hat bereits seit der "Revolution des 25. Januar" stark zugenommen. Während der fast dreißigjährigen Regentschaft von Hunsi Mubarak gab es insgesamt 15 gravierende Angriffe auf koptische Christen. Während der anschließenden 17-monatigen Herrschaft des Militärrates wurden mindestens sechs Angriffe auf Kopten bekannt. Während der einjährigen Amtszeit von Mursi wurden weitere sechs Angriffe dokumentiert. Die staatlichen Behörden müssen umgehend Maßnahmen ergreifen, um Christen und andere Minderheiten in Ägypten vor Angriffen zu schützen.

Wiederkehrendes Muster sexueller Übergriffe
Auch Frauen wurden erneut Opfer brutaler Angriffe. Die Demonstrationen vor und nach der Absetzung Präsident Mursis lösten eine neue Welle sexueller Übergriffe auf Frauen aus. Bereits in der Nacht vom 30. Juni zählte die Initiative "Operation Anti-Sexual Harassment/Assault" (OpAntiSH) 46 sexuelle Übergriffe auf Frauen rund um den Tahrir-Platz in Kairo. Insgesamt wurden in den ersten Tagen der Demonstrationen mehr als 170 Angriffe gezählt.

Diese Form von geschlechtsspezifischer Gewalt ist nicht neu in Ägypten. Auch in der Vergangenheit wurden Frauen bei Demonstrationen immer wieder von gewalttätigen Mobs angegriffen, sexuell belästigt und teilweise vergewaltigt. Dabei folgen die Angriffe einem klaren Muster: Die Frauen werden von Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Männern umringt, die ihnen Kleider und Schleier vom Körper reißen und sie begrapschen. In manchen Fällen werden die Frauen auch Opfer von Vergewaltigung. Häufig kommen dabei Waffen zum Einsatz. Die Täter werden fast nie zur Rechenschaft gezogen, während die Opfer sich nicht auf Hilfe durch die Sicherheitskräfte verlassen können. Zwar gab das Innenministerium im Mai die Gründung einer speziellen, nur aus Frauen bestehenden Polizeieinheit bekannt, die gegen sexuelle Belästigung und Gewalt an Frauen vorgehen soll. Diese Einheit wurde allerdings während der Demonstrationen rund um die Absetzung Mursis nirgendwo beobachtet.

An Stelle der Sicherheitskräfte engagierten sich stattdessen Freiwillige und Menschenrechtsaktivisten. Unermüdlich und unter großem Risiko waren sie im Einsatz, um Frauen und Mädchen in Sicherheit zu bringen und sie medizinisch, psychologisch und juristisch zu unterstützen.

Die Tatsache, dass sich diese Angriffe auf Frauen bis zum heutigen Tag wiederholen, weist auf dramatische Weise auf die massiven Versäumnisse aller bisherigen Regierungen hin, geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Diskriminierung gezielt und effektiv zu bekämpfen. Dabei stellt die Gewalt im Rahmen der Demonstrationen lediglich einen Ausschnitt dar. Eine Studie von UN-Women vom April 2013 zeigt, wie weit verbreitet das Problem in Ägypten ist. Darin geben 99,3 Prozent [sic!] der befragten Frauen an, bereits eine Form der sexuellen Belästigung im Alltag erlebt zu haben. Fast 60 Prozent wurden demnach bereits mindestens einmal Opfer physischer Übergriffe. Die Täter hingegen werden fast nie verurteilt. Stattdessen sehen sich Frauen, die Angriffe oder Belästigungen zur ­Anzeige bringen wollen, häufig mit gleichgültigen Beamten konfrontiert. Dass keine der politischen Kräfte und Parteien die Gewalt vorbehaltlos verurteilt hat, unterstreicht diese Haltung. Einige Parteien instrumentalisierten die Vorfälle sogar, um ihre Gegner zu diffamieren und zu "beweisen", dass es sich bei den Demonstranten der Gegenseite um Kriminelle handele. All dies belegt, dass es absolut unerlässlich ist, dass die ägyptischen Behörden endlich einen umfassenden Aktionsplan vorlegen, um die sexuelle Gewalt und Diskriminierung im Land zu bekämpfen.

Keine Versöhnung ohne Aufklärung
Die brutale Auflösung der Proteste und die hohen Opferzahlen lassen es als sehr unwahrscheinlich erscheinen, dass es bald zu einer politischen Lösung kommt. Um überhaupt eine realistische Chance für einen Versöhnungsprozess zu erhalten, müssen die ägyptischen Behörden die Gewalt gegen Demonstranten, Frauen und Minderheiten umfassend und unabhängig untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Bisherige Untersuchungen durch die ägyptischen Behörden haben bislang jedoch nicht zur Aufklärung und Gerechtigkeit für die Opfer beigetragen. Menschenrechtsverletzungen, die durch Angehörige der Sicherheitskräfte verübt wurden, führten in der Vergangenheit fast nie zu Verurteilungen. Angesichts der angespannten Situation wäre eine transparente Untersuchung, deren Ergebnisse für alle Seiten nachvollziehbar sind und in deren Konsequenz die Verantwortlichen in fairen Verfahren angeklagt werden, zentral für einen Versöhnungsprozess.

Die bisherigen Kenntnisse über die eingeleiteten Untersuchungen der Gewalt durch die Generalstaatsanwaltschaft geben jedoch kaum Grund zur Hoffnung. Zwar wurden Angehörige der Sicherheitskräfte und des Militärs in Verbindung mit der jüngsten Gewalt gegen Demonstrierende vernommen. Kein einziger wurde jedoch verhaftet. Stattdessen wurden Hunderte Mursi-Unterstützer in Verbindung mit den Ausschreitungen festgenommen und mehrheitlich gegen Kautionszahlungen wieder freigelassen. Dass zudem der Notstand verhängt wurde, ist besorgniserregend, da bereits unter Husni Mubarak die staatlichen Stellen regelmäßig den Notstand dazu missbraucht hatten, um die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit auszuhöhlen und Menschenrechtsverletzungen in Straflosigkeit zu begehen.

Die Autorin ist Politikwissenschaftlerin und Ägypten-Expertin der ­deutschen Amnesty-Sektion.

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