Amnesty Report Ukraine 08. Mai 2012

Ukraine 2012

 

Amtliche Bezeichnung: Ukraine Staatsoberhaupt: Wiktor Janukowytsch Regierungschef: Mykola Asarow Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 45,2 Mio. Lebenserwartung: 68,5 Jahre Kindersterblichkeit: 15,1 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 99,7%

Folter und andere Misshandlungen wurden nach wie vor nicht geahndet. Trotz einer Justizreform gelang es nicht, die Unabhängigkeit der Justiz zu verbessern. Die Rechtsstaatlichkeit wurde untergraben, indem das Strafrechtssystem zu politischen Zwecken benutzt wurde. Asylsuchende waren von Abschiebungen bedroht und hatten keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren. Menschenrechtsverteidiger mussten wegen ihrer Arbeit Strafverfolgung und tätliche Angriffe befürchten.

Folter und andere Misshandlungen

Es gab weiterhin Meldungen über Folter und andere Misshandlungen in Polizeigewahrsam. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällte neun Urteile gegen die Ukraine wegen Verstoßes gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention, der ein Verbot der Folter vorsieht.

  • Firdovsi Safarov, ein ukrainischer Staatsbürger aserbaidschanischer Herkunft, teilte Amnesty International mit, er sei am 26. März 2011 von sechs Polizeibeamten der Polizeiwache in Mohiliov Podilsky geschlagen worden. Die Polizei habe ihn angehalten, als er einen alten Wagen zum Schrottplatz fuhr. Er erhielt Schläge auf den Kopf und war rassistischen Beschimpfungen ausgesetzt. Auf der Polizeistation wurde er vom Leiter der Wache und anderen Beamten immer wieder geschlagen, bis man ihn gegen ein Uhr morgens freiließ. Nach Angaben von Firdovsi Safarov forderte man ihn auf, für seine Freilassung 3000 US-Dollar zu zahlen. Er wurde später wegen Widerstands gegen Polizeibeamte angeklagt, jedoch am 25. Juni freigesprochen. Firdovsi Safarov reichte Klage wegen Misshandlungen ein. Nachdem die Klage zunächst zweimal abgewiesen wurde, leitete die Staatsanwaltschaft im Juli Ermittlungen ein. Trotz der laufenden Ermittlungen war der Leiter der Polizeistation Ende 2011 noch immer im Amt. Im Oktober wurde Firdovsi Safarov wegen der erlittenen Verletzungen erneut ins Krankenhaus eingewiesen, doch wurde seine Behandlung bereits nach kurzer Zeit abgebrochen. Berichten zufolge hatten Polizeibeamte entsprechenden Druck auf die behandelnden Ärzte ausgeübt.

Straflosigkeit

In Bezug auf Straftaten, die von der Polizei begangen wurden, herrschte nach wie vor ein Klima der Straflosigkeit. Ermittlungen blieben aus oder waren mangelhaft, selbst in Fällen, in denen medizinische oder andere glaubwürdige Beweise vorlagen. Auch strukturelle Defizite, Korruption sowie die Schikanierung und Einschüchterung von Klägern führten dazu, dass kaum Strafverfolgungsmaßnahmen eingeleitet und Polizisten nicht ausreichend zur Verantwortung gezogen wurden.

Zahlreiche Beschwerdeklagen gegen die Polizei wurden bereits in erster Instanz abgewiesen. Im Juli erklärte die Generalstaatsanwaltschaft, dass von den 6817 Klagen gegen Angehörige der Polizei im Jahr 2010 nur 167 zu strafrechtlichen Ermittlungen führten, von denen anschließend 21 aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden.

  • Am 17. August 2011 entschied das Berufungsgericht Kiew, dass im Fall des 19-jährigen Studenten Ihor Indilo, der 2010 in Polizeigewahrsam gestorben war, keine weiteren Ermittlungen erforderlich seien. Damit hielt das Gericht die Erklärung der Polizei für glaubwürdig, die tödliche Kopfverletzung des Studenten sei darauf zurückzuführen, dass er in seiner Zelle von einer 50cm hohen Bank gefallen sei. Im Oktober gab der Generalstaatsanwalt bekannt, er habe eine weitere Untersuchung des Todesfalls angeordnet.

  • Am 24. Oktober gab die Staatsanwaltschaft Kiew bekannt, dass eine Untersuchung im Fall von Alexander Rafalsky eingeleitet wurde. Dieser hatte ausdauernd und hartnäckig den Vorwurf erhoben, man habe ihn im Juni 2001 gefoltert, um ein Mordgeständnis zu erpressen. Im Jahr 2004 war er zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Die Staatsanwälte hatten sich bislang stets geweigert, seinen Beschuldigungen nachzugehen.

Justizwesen

Die Reform des Justizwesens dauerte 2011 an. Im Juli wurde dem Parlament der Entwurf für eine neue Strafprozessordnung vorgelegt, der zum Jahresende aber noch nicht verabschiedet worden war.

Die Unabhängigkeit der Richter war gefährdet, da die Generalstaatsanwaltschaft nach wie vor die Befugnis zur Strafverfolgung von Richtern hatte und dadurch Druck ausüben konnte. Am 7. Juni bat der stellvertretende Generalstaatsanwalt um die Entlassung von drei Richtern am Berufungsgericht Kiew. Sie hatten den Antrag eines Staatsanwalts auf Inhaftierung eines Verdächtigen abgelehnt, weil es dazu ihrer Ansicht nach keinen Anlass gab.

Im Oktober wurden Änderungen zum Gesetz über das Justizwesen und den Status von Richtern verabschiedet. Die Änderungen erfolgten aufgrund kritischer Kommentare zu dem 2010 verabschiedeten Gesetz, das u.a. die Funktion des Obersten Gerichtshofs drastisch eingeschränkt hatte.

Mit den Gesetzesänderungen wurde die Funktion des Obersten Gerichtshofs nur teilweise wiederhergestellt. Im Oktober kritisierte der Europarat die Rolle des Parlaments bei der Ernennung und Entlassung von Richtern. Das Gremium sah die Unabhängigkeit von Richtern gefährdet, da sie vor ihrer Ernennung auf Lebenszeit zunächst nur eine vorläufige Ernennung für fünf Jahre erhielten. Der Europarat empfahl, diese Richter nicht mit "wichtigen Fällen mit großer politischer Tragweite" zu betrauen.

  • Am 11. Oktober 2011 wurde Julia Timoschenko, die von Januar bis September 2005 sowie von Dezember 2007 bis März 2010 ukrainische Ministerpräsidentin war, von einem Gericht in Kiew zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Außerdem darf sie nach ihrer Haftstrafe drei Jahre lang kein öffentliches Amt ausüben. Julia Timoschenko wurde vorgeworfen, im Januar 2009 einen Gasvertrag mit Russland in Höhe von mehreren Millionen US-Dollar abgeschlossen zu haben. Bei den Anklagepunkten gegen sie handelte es sich nicht um anerkannte Straftatbestände, sie waren vielmehr politisch motiviert. Der für ihren Fall zuständige Richter hatte einen befristeten Vertrag.

Flüchtlinge und Asylsuchende

Am 8. Juli 2011 verabschiedete die Ukraine ein neues Gesetz zu "Flüchtlingen und Personen, die komplementären Schutz benötigen". Das Gesetz verbesserte den Status von Flüchtlingen und machte es für Asylsuchende einfacher, Dokumente zu erhalten. Außerdem wurde für Personen, die nicht genau unter die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention fallen, das Konzept des komplementären Schutzes eingeführt. Dennoch blieb das Gesetz hinter internationalen Standards zurück, da es im Falle von internationalen oder internen bewaffneten Konflikten keinen komplementären Schutzbedarf vorsieht. Das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) kritisierte das neue Gesetz, da es ihm keinen Zugang zu den betreffenden Personen und keine beratende Rolle bei der Bestimmung des Flüchtlingsstatus einräumt.

Im Dezember 2010 war eine neue Migrationsbehörde geschaffen worden, die dem Innenministerium unterstand. Die regionalen Migrationsämter stellten ihre Arbeit im Oktober ein, und Ende 2011 war das neue System funktionsfähig. Für Asylsuchende bestand die Gefahr, in Länder abgeschoben zu werden, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohten.

  • Im März wurde eine Gruppe von zehn afghanischen Staatsbürgern, zu der auch ein Kind zählte, nach Afghanistan abgeschoben. Die Asylanträge einiger von ihnen waren abgelehnt worden. Sie erhielten keinerlei Möglichkeit, Rechtsmittel gegen die Ablehnung oder ihre Abschiebung einzulegen. Die Gruppe erhob den Vorwurf, bei der Beantragung des Asyls und während des Abschiebeprozesses hätten keine Dolmetscher zur Verfügung gestanden. Außerdem hätten sie Dokumente in einer fremden Sprache unterzeichnen müssen, die sie nicht verstanden hätten. Am 17. März erklärte der staatliche Grenzschutz gegenüber regionalen Medien, man habe gegen die Männer Gewalt eingesetzt, weil sie sich der Abschiebung widersetzt hätten.

Menschenrechtsverteidiger

Menschenrechtsverteidiger, die Korruption und Menschenrechtsverletzungen durch lokale Staatsbedienstete und Polizisten aufdeckten, waren tätlichen Angriffen und strafrechtlichen Ermittlungen ausgesetzt, die zum Ziel hatten, sie zum Schweigen zu bringen.

  • Am 12. Januar wurde Dmytro Groysman, der Vorsitzende der Menschenrechtsgruppe von Winnyzja, wegen Verunglimpfung der ukrainischen Flagge sowie der Verbreitung von Pornografie angeklagt, weil er in seinem Weblog freizügiges satirisches Video- und Bildmaterial veröffentlicht hatte. Zum Jahresende war das Verfahren noch nicht abgeschlossen. Dmytro Groysman befand sich gegen Zahlung einer Kaution auf freiem Fuß. Die Verwendung entsprechender Bilder in diesem Kontext fiel nach internationalem Recht in den Bereich der zulässigen öffentlichen Meinungsäußerung. Obwohl das fragliche Video bereits durch verschiedene Webseiten große öffentliche Verbreitung gefunden hatte, wurde Dmytro Groysman als Einziger dafür zur Rechenschaft gezogen. Dies gab Anlass zu der Vermutung, dass die Anklage im Zusammenhang mit seinem Engagement für die Menschenrechte stand.

  • Am 28. August 2011 wurde Andrei Fedosov Berichten zufolge wegen seiner Bemühungen, Korruption und Menschenrechtsverletzungen in psychiatrischen Kliniken aufzudecken, Opfer eines brutalen Angriffs. Der Leiter der Organisation Yuzer, die sich für die Rechte psychiatrischer Patienten einsetzt, war von einem Unbekannten gebeten worden, in das Dorf Mirny auf der Krim zu kommen, weil dort angeblich ein psychiatrischer Patient seine Hilfe benötigte. Dort wurde er in eine Wohnung gebracht und gefoltert. Nach seiner Freilassung rief er sofort die Polizei an. Er konnte seinen Angreifer auf der Dorfstraße identifizieren. Die Polizei brachte Andrei Fedosov und den Angreifer auf die örtliche Polizeiwache. Angreifer und Polizei schienen miteinander bekannt zu sein. Andrei Fedosov meldete die Straftat, hinterließ seine Reisepassdaten und verließ die Wache. Draußen telefonierte er kurz mit einem Freund, wurde dann aber wegen Zurschaustellung "unangemessenen Verhaltens" wieder von der Polizei festgenommen. Die Polizei brachte ihn zu einer Untersuchung in eine psychiatrische Klinik und schlug ihm auf den Kopf, als er nach dem Grund fragte. In der Klinik angekommen, wurde er von den anwesenden Ärzten freigelassen. Der Übergriff wurde von den Behörden nicht untersucht, und Andrei Fedosov hatte große Probleme, seine Verletzungen zu dokumentieren. Obwohl er sich um entsprechende Nachweise bemühte, wurden seine Verletzungen von Ärzten in der nahe gelegenen Stadt Jewpatorija und in Kiew nicht ernst genommen.

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