Amnesty Report Kroatien 10. Mai 2011

Kroatien 2011

Amtliche Bezeichnung: Republik Kroatien Staatsoberhaupt: Ivo Josipovic (löste im Februar Stjepan Mesic im Amt ab) Regierungschefin: Jadranka Kosor Todesstrafe: für alle Straftaten abgeschafft Einwohner: 4,4 Mio. Lebenserwartung: 76,7 Jahre Kindersterblichkeit (m/w): 8/7 pro 1000 Lebendgeburten Alphabetisierungsrate: 98,7%

Trotz internationalen Drucks kam die strafrechtliche Verfolgung der während des Kriegs von 1991 bis 1995 begangenen Verbrechen nur schleppend voran. Viele der mutmaßlich von Angehörigen der kroatischen Armee und der Polizei begangenen Verbrechen blieben ungeahndet. Der Präsident unternahm gewisse politische Schritte zur Vergangenheitsbewältigung. Doch mangelte es an gezielten Maßnahmen seitens der Regierung und der Justizbehörden, um Kriegsverbrechen aufzuarbeiten. Angehörige der Roma, kroatische Serben sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen wurden weiterhin Opfer von Diskriminierung.

Hintergrund

Bei den Beitrittsverhandlungen mit der EU waren 2010 Fortschritte zu verzeichnen, so dass einige Verhandlungskapitel erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Im Juni begannen die Verhandlungen zu den Kapiteln Justiz und Grundrechte. Dabei legte die EU bestimmte Kriterien fest.

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien stellte in seinem Bericht für den UN-Sicherheitsrat im Dezember fest, dass Kroatien die noch ausstehenden Militärdokumente über die "Operation Sturm" nach wie vor nicht ausgehändigt habe. Dabei handelte es sich um eine umfangreiche Militäroperation der kroatischen Armee im Jahr 1995.

Innerstaatliche Strafverfolgung von Kriegsverbrechen

Die strafrechtliche Verfolgung der während des Kriegs 1991–95 begangenen Verbrechen kam weiterhin nur schleppend voran.

Die kroatische Justiz war nach wie vor kaum in der Lage, die Kriegsverbrechen zu verfolgen. Im Durchschnitt wurden jährlich weniger als 18 Fälle abgeschlossen. In Hunderten von Fällen, insbesondere solchen, bei denen die Opfer kroatische Serben und die mutmaßlichen Verantwortlichen Angehörige der kroatischen Armee und Polizei waren, wurden keine Ermittlungen eingeleitet.

Die zuständigen Gerichte wandten in diesen Fällen auch weiterhin das Strafgesetzbuch von 1993 an, das nicht den internationalen Standards entsprach. Darin wurden grundlegende strafrechtliche Sachverhalte, wie das Prinzip der Befehlsverantwortung, sexuelle Gewalt als Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht präzise definiert. Die Anwendung des Strafgesetzbuchs führte dazu, dass zahlreiche Verbrechen straffrei blieben.

Vor Gericht kam es nach wie vor zur Einschüchterung von Zeugen. Die Maßnahmen, um Opfer und Zeugen zu unterstützen und zu schützen, waren weiterhin unzureichend. Nur vier Gerichte verfügten über die nötigen Einrichtungen und Mitarbeiter, um Zeugen Schutz gewähren zu können.

Eine 2003 verabschiedete Gesetzgebung, die dazu dienen sollte, Hindernisse bei der strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen zu beseitigen, wurde größtenteils nicht umgesetzt. Es fehlte weithin an politischem Willen, Justizreformen anzugehen und die Straflosigkeit zu bekämpfen.

Die Behörden ließen den Opfern von Kriegsverbrechen und ihren Familien keine Entschädigungen zukommen.

  • Im Juli 2010 bestätigte der Oberste Gerichtshof den Schuldspruch gegen Branimir Glavas und fünf weitere Männer, die 2009 vom Bezirksgericht Zagreb wegen Verbrechen verurteilt worden waren, die sie während des Kriegs an kroatischen Serben in Osijek begangen hatten. Der Oberste Gerichtshof reduzierte jedoch das Strafmaß, da er in starkem Maße mildernde Umstände berücksichtigte. Einige dieser mildernden Umstände, wie z.B. die Zugehörigkeit der Angeklagten zur kroatischen Armee, verstießen gegen international anerkannte Standards. Glavas, der im Besitz eines bosnischen Reisepasses war, war im Mai 2009 nach Bosnien und Herzegowina geflüchtet. Das im Juli gefällte Urteil des Obersten Gerichtshofs von Kroatien wurde im September durch den Staatsgerichtshof von Bosnien und Herzegowina bestätigt. Branimir Glavas wurde daraufhin am 28. September verhaftet. Im Oktober leitete die kroatische Behörde zur Bekämpfung von Korruption und organisierter Kriminalität Ermittlungen gegen fünf Männer ein, von denen einer dem kroatischen Parlament angehörte. Die Gruppe soll im Juni und Juli versucht haben, Personen anzuwerben, um die für den Fall Branimir Glavas zuständigen Richter zu bestechen und auf diese Weise ein milderes Urteil zu erwirken.

  • Im März 2010 bestätigte der Oberste Gerichtshof Kroatiens die Urteile gegen Mirko Norac und Rahim Ademi. Norac war 2008 vom Bezirksgericht Zagreb für schuldig befunden worden, während Ademi freigesprochen worden war. Die Anklage gegen die beiden Männer hatte auf Kriegsverbrechen einschließlich Mord gelautet, auf unmenschliche Behandlung, Plünderung und mutwillige Zerstörung von Eigentum. Die Verbrechen waren im Zuge von Militäroperationen im Jahr 1993 gegen kroatisch-serbische Zivilisten und Kriegsgefangene verübt worden. In seinem Urteil reduzierte der Oberste Gerichtshof die gegen Mirko Norac verhängte Freiheitsstrafe von sieben auf sechs Jahre unter Berücksichtigung mildernder Umstände. Viele der mildernden Umstände verstießen gegen internationales Recht. So wurde u.a. angeführt, die Verbrechen seien im Rahmen einer rechtmäßigen Militäraktion der kroatischen Armee verübt worden, und Norac habe sich am Kampf für die Unabhängigkeit beteiligt.

Im Juni 2010 forderte der Menschenrechtskommissar des Europarats die kroatischen Behörden auf, effektive Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen auf unparteiische Weise erfolge. Die Fälle müssten unabhängig von der ethnischen Herkunft oder dem sonstigen Hintergrund der mutmaßlichen Täter sowie in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Diskriminierungsverbot verfolgt werden. Der Dienst in der kroatischen Armee oder bei der Polizei dürfe im Falle schwerer Menschenrechtsverletzungen nicht als mildernder Umstand gewertet werden.

Im November stellte die Europäische Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zu Kroatien fest, dass die Straflosigkeit für Kriegsverbrechen nach wie vor ein Problem darstelle, insbesondere für solche, in denen die Opfer ethnische Serben und die mutmaßlichen Verantwortlichen Angehörige der kroatischen Armee waren.

  • Am 10. Dezember 2010 wurde Tomislav Mercep in Zagreb verhaftet. In einem tags zuvor von Amnesty International veröffentlichten Bericht war er, neben anderen hochrangigen Personen, als einer derjenigen genannt worden, die mutmaßlich Kriegsverbrechen begangen hatten. Die Ermittlungen gegen Tomislav Mercep betrafen u.a. seine mutmaßliche Befehlsverantwortung für die widerrechtliche Tötung und das "Verschwindenlassen" von 43 Personen in Zagreb und Pakracka Poljana während des Kriegs 1991–95.

Internationale Strafverfolgung von Kriegsverbrechen

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag waren Verfahren anhängig, in denen es um Verbrechen gegen das Völkerrecht ging, die während des Kriegs 1991–95 auf kroatischem Territorium begangen worden waren.

  • Im Verfahren gegen die drei pensionierten kroatischen Armeegeneräle Ante Gotovina, Ivan Cermak und Mladen Markac hielten der Chefankläger des ICTY und die Verteidiger zwischen Juli und September ihre Schlussplädoyers. Den Angeklagten wurden Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verstöße gegen das Kriegs- und Gewohnheitsrecht in neun Punkten zur Last gelegt. Die Verbrechen waren während der "Operation Sturm" 1995 verübt worden und hatten sich gegen die serbische Bevölkerung in 14 Gemeinden im Süden Kroatiens gerichtet. Die Urteilsverkündung wird für 2011 erwartet.

Umstritten war weiterhin die Bereitschaft Kroatiens, mit dem Chefankläger des ICTY zu kooperieren. Die Verfahrenskammer des Strafgerichtshofs betonte im Juli, dass die kroatischen Behörden zur Kooperation verpflichtet seien. Sie wies jedoch einen Antrag des Chefanklägers ab, der eine gerichtliche Anordnung zur Herausgabe von Beweismaterial durch die Behörden gefordert hatte. Die Strafkammer begründete dies damit, dass die Art des Verfahrens es ihr unmöglich mache zu beurteilen, ob die Behörden in der Lage seien, der Anordnung gegebenenfalls Folge zu leisten. Außerdem sah die Strafkammer davon ab zu entscheiden, ob die gesuchten Dokumente überhaupt existierten.

  • Die Verhandlung gegen Vojislav Seselj, dem Verbrechen in Bosnien und Herzegowina, Kroatien und Serbien (Vojvodina) zur Last gelegt werden, wurde 2010 fortgesetzt. Die Anklageschrift umfasste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Verfolgung aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen, Deportation und unmenschliche Handlungen. Außerdem wurden ihm Verstöße gegen das Kriegs- und Gewohnheitsrecht zur Last gelegt, wie Mord, Folter, grausame Behandlung, die willkürliche Zerstörung von Dörfern oder durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigte Verwüstung, die Zerstörung oder vorsätzliche Beschädigung von Einrichtungen, die der Religion oder der Erziehung gewidmet sind, sowie die Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums.

  • Das Verfahren gegen Momcilo Perisic, der u.a. wegen des Bombardements von Zagreb im Mai 1995 angeklagt war, wurde vor dem ICTY fortgesetzt. Die Verfahrenskammer gab im November 2010 dem Antrag des Chefanklägers statt, neue Beweismittel in dem Fall vorzulegen.

  • Der Prozess gegen Jovica Stanisic und Franko Simatovic dauerte an. Die beiden Männer waren u.a. wegen Verfolgung aus rassischen und religiösen Gründen, Mord, Deportation und unmenschlichen Handlungen an der nicht serbischen Bevölkerung in den von Serben kontrollierten Gebieten Kroatiens während des Kriegs 1991–95 angeklagt. Im Oktober wurde in dem Fall neues Beweismaterial vorgelegt. Im Laufe des Jahres wurden die Verhandlungstermine aufgrund des schlechten Gesundheitszustands von Jovica Stanisic von der Verfahrenskammer wiederholt verlegt. Weitere Verzögerungen entstanden durch den Tod des führenden Rechtsbeistands von Franko Simatovic im Jahr 2009.

  • Im Dezember 2010 revidierte die Berufungskammer des ICTY das Urteil gegen Veselin Sljivancanin, der im November 1991 wegen Beihilfe zum Mord an 194 Kriegsgefangenen nach dem Sturz von Vukovar schuldig befunden worden war, und verkürzte das Strafmaß von 17 auf zehn Jahre Haft.

Versammlungsfreiheit

Bezüglich des Rechts auf Versammlungsfreiheit gab es Anlass zur Besorgnis, nachdem am 15. Juli 2010 in Zagreb mindestens 140 Personen, die an einer friedlichen Demonstration teilgenommen hatten, festgenommen und kurzzeitig inhaftiert worden waren.

Die Protestkundgebung war von der Bürgerinitiative "Der Stadt ihr Recht" (Pravo na Grad) organisiert worden und galt dem Schutz der Varsavska Straße im historischen Teil Zagrebs. Der Straße drohte durch den Bau einer Zufahrtsrampe für ein Einkaufszentrum die teilweise Zerstörung. So sollten der Baumaßnahme mehrere Bäume zum Opfer fallen und ein Teil der Fußgängerzone in privates Zufahrtsgelände umgewandelt werden.

Diskriminierung

Ethnische Minderheiten

Angehörige der Roma wurden im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen und sozialen Rechte weiterhin diskriminiert, dies galt u.a. für das Bildungssystem sowie für den Arbeits- und Wohnungsmarkt. Die von den Behörden zur Abhilfe ergriffenen Maßnahmen blieben unzureichend.

Im März 2010 verkündete die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ihr Urteil im Fall Orsus und andere gegen Kroatien. Nach Ansicht des Gerichts erfüllte die Unterbringung von 14 Roma-Schulkindern in separaten Klassen im Jahr 2002 auf Grundlage ihrer Kroatischkenntnisse den Tatbestand ethnisch motivierter Diskriminierung.

Die Große Kammer kam zu dem Schluss, dass die Tests, aufgrund derer die Zuweisung der Kinder in reine Roma-Klassen erfolgte, nicht ihre Sprachkenntnisse bewerteten, wie dies die Regierung behauptet hatte, sondern nur ihren allgemeinen psychischen und körperlichen Zustand. Für Kinder, die den reinen Roma-Klassen zugewiesen worden waren, gab es keine Maßnahmen, um ihre angeblich mangelhaften Kroatischkenntnisse zu verbessern. Dementsprechend wurde auch nicht festgestellt, ob sie Fortschritte beim Spracherwerb machten. Der Lehrplan für die reinen Roma-Klassen war stark reduziert. Er umfasste 30% weniger Stoff als der Lehrplan der übrigen Klassen.

Im Juni 2010 berichtete der Menschenrechtskommissar des Europarats, dass in einigen Schulen des Landes auch weiterhin eine "De-facto-Segregation" bestehe.

Im Juli besuchte die UN-Sonderberichterstatterin über das Recht auf angemessenes Wohnen Kroatien und kam zu dem Schluss, dass die aktuelle Wohnungssituation stark von den Folgen des bewaffneten Konflikts und dem Wechsel vom sozialen Wohnungsbau zur Privatwirtschaft geprägt sei. Dies wirke sich vor allem auf schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen wie Roma und kroatische Serben nachteilig aus. Die Sonderberichterstatterin äußerte sich besorgt über die Lebensbedingungen in Roma-Siedlungen und machte darauf aufmerksam, dass sich über 70000 kroatische Serben noch immer als Flüchtlinge in Nachbarländern aufhielten, davon mindestens 60000 in Serbien.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen

Am 19. Juni fand in Zagreb eine Gay Pride Parade statt. Die etwa 500 Teilnehmenden erhielten Polizeischutz, und es wurden keine größeren Zwischenfälle gemeldet. Im Anschluss an die Demonstration wurden zwei Teilnehmer jedoch von einer Gruppe junger Männer tätlich angegriffen. Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, um die Täter zu ermitteln. Diese hatte aber Ende 2010 noch zu keinem Ergebnis geführt.

Amnesty International: Missionen und Berichte

Delegierte von Amnesty International besuchten Kroatien im Januar, März/April und Dezember.

Croatia: Briefing to the United Nations Committee against Torture (EUR 64/001/2010)

Briefing to the European Commission and member states of the European Union (EU) on the progress made by the Republic of Croatia in prosecution of war crimes (EUR 64/002/2010)

Behind a wall of silence: Prosecution of war crimes in Croatia (EUR 64/003/2010)

Croatia: Authorities must guarantee freedom of assembly (EUR 64/004/2010)

Croatian war crimes suspect arrested, 10 December 2010

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