Aktuell Ukraine 23. Januar 2014

Ukraine muss dringend die Eskalation der Gewalt stoppen

In der Ukraine kommt eszu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten

In der Ukraine kommt eszu Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten

23. Januar 2014 - Nachdem das neue Parlamentsgesetz am 18. Januar 2013 von Präsident Janukowitsch unterzeichnet wurde, eskalierte am Folgetag in der Hauptstadt Kiew die Gewalt zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern. Aus einer zunächst friedlichen Massenkundgebung auf dem Maidan löste sich eine Gruppe von Demonstranten und geriet auf dem Weg zum Parlament in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei. Die Ausschreitungen dauerten mehrere Stunden an, auf beiden Seiten gab es Verletzte.

Es gibt Berichte über Vandalismus an Fahrzeugen und Wurfgeschossen gegenüber Polizisten seitens der Demonstranten, die Einsatzkräfte der Polizei gingen mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Mehrere Oppositionsführer, darunter Vitali Klitschko, versuchten, gewaltbereite Demonstranten zu beruhigen, wurden dabei aber ihrerseits angegriffen. Amnesty International beobachtet die Situation weiterhin und wird auf die Ereignisse reagieren.

Der Einsatz scharfer Munition durch die Polizei würde die höchst explosive Lage in Kiew nur noch weiter aufheizen, sagte Amnesty International gestern, nachdem vier Demonstranten getötet wurden und die Regierung eine Erklärung veröffentlichte, die die Polizei zum Einsatz von Gefechtsmunition ermächtigt.

Der Tod eines Mannes, der von zwei Bereitschaftspolizisten brutal zusammengeschlagen worden war, ist ein weiteres Beispiel für die weit verbreitete Straflosigkeit polizeilicher Übergriffe.

Videoaufnahmen dokumentieren die fortdauernden Angriffe der zwei Beamten auf den Mann, welcher auf den Kolonnaden am Eingang des Fußballstadiums von Dynamo Kiew zunächst mit Schlägen und Tritten malträtiert und anschließend weggeschafft wurde.
"Es darf für Sicherheitskräfte keine Straffreiheit für den missbräuchlichen Einsatz von Polizeigewalt geben. Wir haben wiederholt an die ukrainischen Behörden appelliert, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Doch heute hat der unrechtmäßige Einsatz von Polizeigewalt mindestens ein Todesopfer gefordert. Was muss noch passieren, damit Polizeibeamte endlich für Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden?" sagte Heather McGill, Ukraine-Expertin von Amnesty International.

Drei weitere Demonstranten sind durch Schüsse unbekannter Personen umgekommen, Berichten zufolge agierte einer der Täter als Scharfschütze aus dem Fenster eines sechsstöckigen Gebäudes. Die Polizei hat die Verwendung scharfer Munition bestritten. Andere Sicherheitsbehörden haben sich dazu nicht geäußert.

Bei dem Opfer des Scharfschützen handelt es sich um den 20-jährigen Serhiy Nikoyan aus dem Ort Dnipropetrovsk in der südöstlichen Ukraine.

Sowohl der Koordinator der am Euromaidan eingesetzten freiwilligen Sanitäter als auch das Innenministerium haben bestätigt, dass die Todesursache auf einen Schuss mit scharfer Munition zurückzuführen ist.

Nach Berichten belarussischer Nachrichtenmedien handelt es sich bei einem der anderen beiden Männer, die durch scharfe Munition getötet wurden, um den 30-jährigen Mikhail Zhyzneuski, einen Staatsangehörigen aus Belarus.

Das Innenministerium bestritt, Gefechtsmunition verwendet zu haben, drohte aber angesichts der vorgefallenen Schießereien zukünftig mit dem Einsatz scharfer Geschosse.

In einer Erklärung auf der Internetseite des Ministeriums heißt es: "Sollte sich bestätigen, dass die Teilnehmer der Massenunruhen Schusswaffen verwendet haben, so ist die Polizei nach Artikel 15 des Polizeigesetzes zum Einsatz von Schusswaffen befugt." Bisher wurde weder die Verwendung von Schusswaffen seitens der Demonstranten bestätigt, noch ist die Identität der Schützen geklärt.

"Die ukrainischen Behörden dürfen nicht vergessen, dass Sicherheitskräfte nur dann zum Einsatz von Schusswaffen berechtigt sind, wenn eine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben droht, die nicht mit anderen Mitteln abgewendet werden kann", sagte Heather McGill.

"Straffreiheit für Beamte der Sicherheitsbehörden ist bereits jetzt ein ernstes Problem in der Ukraine und die Entscheidung, den Einsatz scharfer Munition zu gestatten, alarmierend."

Im Rahmen der bislang überwiegend friedlichen Proteste in Kiew kam es in der Nacht vom Sonntag zu gewaltsamen Ausschreitungen, nachdem die Regierung am Donnerstag, den 16. Januar, eine Reihe von Gesetzesänderungen veranlasst hatte, die strafrechtliche Sanktionen für Proteste und erhebliche Einschränkungen der Versammlungs-, Vereinigungs- und Meinungsfreiheit vorsehen. Die neuen gesetzlichen Regelungen traten am Mittwoch, den 22. Januar, in Kraft.

"Die ukrainischen Behörden müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um die Eskalation der Gewalt zu stoppen, bevor es zu weiteren Todesopfern kommt. Wenn sie, wie sie behaupten, tatsächlich an einer friedlichen Lösung der andauernden politischen Krise interessiert sind, müssen sie die Rechte der Bürger respektieren, anstatt mit der Niederschlagung friedlicher Demonstrationen und der Billigung bzw. Nichtahndung missbräuchlicher Polizeigewalt deren Freiheiten zu drangsalieren," so Heather McGill.

Ein Protestierender auf dem Maidan-Platz

Ein Protestierender auf dem Maidan-Platz

Amnesty International bedauert den Ausbruch von Gewalt im Rahmen der bisher überwiegend friedlichen Protestbewegung und erkennt das Bedürfnis von Sicherheitsbehörden, mit Zwangsmaßnahmen gegen gewaltsame Demonstrationen vorzugehen. Gleichzeitig appelliert die Organisation an die ukrainischen Sicherheitsbehörden, den Einsatz von Gewalt auf das erforderliche Maße zu beschränken und den Grundsatz strikter Verhältnismäßigkeit zu wahren.

Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sind in bestimmten Situationen zulässig, etwa aus Gründen der nationalen und öffentlichen Sicherheit oder zum Schutz anderer Bürger. Doch nur in extremen Ausnahmefällen sollten Regierungen auf Versammlungsverbote zurückgreifen. Es widerspricht internationalen Menschenrechtsstandards, die bloße Forderung nach einem Regierungswechsel als Gefahr für die nationale Sicherheit zu werten. Ebenso wenig dürfen Versammlungen generell von einer staatlichen Genehmigung abhängig gemacht werden.

HINTERGRUNDINFORMATIONEN:

Verschärfung des Versammlungsrechts / Gewaltsame Zusammenstöße bei Protesten

Ein neues Gesetz in der Ukraine bringt gravierende Einschnitte in die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die Freiheit der Presse, wodurch sich die Menschenrechtslage weiter verschärft. In Kiew eskalierte derweil die Gewalt zwischen Polizei und Demonstranten der bisher überwiegend friedlichen Maidan-Protestbewegung. Bereits zuvor hatte ein örtliches Gericht ein zweimonatiges Demonstrationsverbot für oppositionelle Protestgruppen verhängt.

Amnesty International fordert die sofortige Aufhebung von Beschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit in der Ukraine. Die Möglichkeit zu friedlichen Versammlungen und Kritik an der Regierung muss gewährleistet bleiben. Die Sicherheitsbehörden sind verpflichtet, auf Störungen der öffentlichen Sicherheit verhältnismäßig und ohne Einsatz übermäßiger Gewalt zu reagieren.

Dokumentierte Menschenrechtsverstöße durch Sicherheitskräfte bei Maidan-Protesten

Mehrere hunderttausend Menschen demonstrieren seit dem 21. November 2013 in Kiew und anderen Städten, nachdem die ukrainische Regierung die Verhandlungen für ein Assoziierungsabkommen mit der EU wenige Tage vor der anstehenden Unterzeichnung abgebrochen hatte. Die fortdauernde Oppositionsbewegung ist unter dem Namen "EuroMaydan" bekannt geworden, benannt nach dem Unabhängigkeitsplatz Maidan Nezalezhnosti im Zentrum von Kiew.

Bisher sind die Euromaidan-Proteste überwiegend friedlich verlaufen. Dennoch gab es von Seiten der ukrainischen Sicherheitsbehörden wiederholt Übergriffe auf friedliche AktivistInnen. Amnesty International hatte hierzu im Dezember 2013 den Bericht "EUROMAYDAN: Human rights violations during protests in Ukraine" veröffentlicht. Zu den darin dokumentierten Menschenrechtsverletzungen zählen willkürliche und übermäßige Gewaltanwendung durch Sicherheitskräfte, Schikane und Einschüchterungen von Gewaltopfern und Zeugen, unrechtmäßige Inhaftierungen und unfaire Gerichtsverfahren, Straffreiheit für verantwortliche Täter der Sicherheitsbehörden, sowie Übergriffe und Einschüchterungen gegenüber Journalisten.

Neues Parlamentsgesetz schränkt Versammlungsfreiheit weiter ein

Die Versammlungsfreiheit in der Ukraine wird drastisch eingeschränkt.

Die Versammlungsfreiheit in der Ukraine wird drastisch eingeschränkt.

Durch ein neues Gesetz drohen zusätzliche gravierende Eingriffe in fundamentale Bürgerrechte. Am 16. Januar 2013 hat das ukrainische Parlament im Schnelldurchlauf und ohne Plenumsdiskussion eine Reihe von Gesetzesänderungen beschlossen, durch die das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit friedlicher Versammlungen auf erdrückende Weise ausgehöhlt werden. Das neue Gesetz ermöglicht außerdem die strafrechtliche Verfolgung von JournalistInnen, AktivistInnen der Zivilgesellschaft, NGOs, religiösen Organisationen und Nachrichtenportalen im Internet.

"Die Verabschiedung dieses Gesetzes ist ein Rückschlag für jeglichen Fortschritt, den die Ukraine in den letzten 20 Jahren bei der Umsetzung seiner internationalen Menschenrechtsverpflichtungen erzielt hat. Für das Land gibt dies einen düsteren Ausblick für die Zukunft", sagte Heather McGill, Expertin für die Ukraine von Amnesty International.

Die vom Parlament verabschiedeten Änderungen sehen neue bürokratische Auflagen wie insbesondere ein allgemeines Genehmigungserfordernis für Versammlungen vor und verschärfen Sanktionen bei Verstößen. Die Polizei erhält zudem größere Kontroll- und Eingriffsbefugnisse.

Das sehr vage formulierte Delikt "extremistischer Aktivitäten", das Angriffe auf die "Unantastbarkeit des Staates" sowie Beeinträchtigungen von Regierungsarbeit unter Strafe stellt, könnte zur strafrechtlichen Verfolgung von Demonstranten, die einen Regierungswechsel fordern oder außerhalb von Regierungsgebäuden protestieren, genutzt werden.

Anfang Januar hatte bereits das örtliche Verwaltungsgericht ein zweimonatiges Demonstrationsverbot für oppositionelle AktivistInnen im Stadtzentrum von Kiew verhängt. Das Verbot richtet sich ausdrücklich auch gegen friedliche Demonstrationen.

"Indem zur Verhinderung von Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten ein allgemeines Demonstrationsverbot verhängt wird, anstatt Versammlungen verantwortungsvoll zu überwachen, entziehen sich die ukrainischen Sicherheitsbehörden in bedauerlicher Weise ihrer Verantwortung", sagte Heather McGill.

"Der Umstand, dass das Demonstrationsverbot spezifisch auf friedliche Demonstrationen Anwendung findet, ist ein besonders eklatanter Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit und missachtet die Rechte der ukrainischen Bürger."

Das Demonstrationsverbot war mit Hinweis auf Gefahren für die nationale Sicherheit, Gesundheitswesen und öffentliche Ordnung erlassen worden und stützt sich außerdem auf eine Verordnung der Stadt Kiew, wonach im Stadtzentrum nur staatlich organisierte Demonstrationen zugelassen sind. Das Gericht beruft sich auf Störungen von Anwohnern und Schulkindern in den von Demonstrationen betroffenen Bezirken, das Risiko der Verbreitung von Infektionskrankheiten, den Umstand, dass die Demonstranten den Rücktritt der Regierung gefordert haben und auf die Gefahr gewaltsamer Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten.

"Eine Verbotspraxis, die an die politische Orientierung der betroffenen Demonstranten anknüpft, ist eine gravierende Verletzung der Versammlungsfreiheit. Die nationale Sicherheit wird hierdurch nicht gestärkt sondern ausgehöhlt", sagte Heather McGill.

Forderungen von Amnesty International

Das Recht friedlicher Demonstranten auf freie Meinungsäußerung sowie Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit muss gewährleistet werden. Amnesty International fordert die Aufhebung des gerichtlichen Demonstrationsverbots und die Rücknahme der gesetzlichen Verschärfung des Versammlungsrechts.

"Das neue Gesetz ist darauf zugeschnitten, dass die Behörden größere Befugnisse zum Einschreiten gegen die friedlichen Proteste von Regierungskritikern im Zentrum von Kiew bekommen. Es zeigt, dass die Regierung offenkundig weder Interesse an einem Dialog noch Bereitschaft zur Anhörung von Kritik hat, sondern es stattdessen auf eine frontale Konfrontation mit einem großen Teil der Bevölkerung anlegt", sagte Heather McGill.

Weitere gesetzliche Neuerungen zur Einschränkung der Vereinigungs- Meinungs- und Pressefreiheit

Das umstrittene Gesetz enthält weitere Regelungen, durch die Rechte der Zivilbevölkerung und der freien Medien in gravierendem Maße eingeschränkt werden.

Sämtliche Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten und nach der überaus weiten gesetzlich Definition "politisch tätig" sind, werden fortan verpflichtet, sich als "ausländische Agenten" zu registrieren, andernfalls droht das neue Gesetz mit ihrer Auflösung.

"Diese Neuerungen des Vereinigungsrechts sind eine fast exakte Kopie des russischen 'Agentengesetzes', welches verheerende Auswirkungen für die Zivilgesellschaft in Russland hatte", sagte Heather McGill.

Durch die Wiedereinführung des Tatbestands der Verleumdung werden außerdem Journalisten, die regierungskritisches Material veröffentlichen, dem Risiko strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt. Auf die Enthüllung von Informationen über Sicherheitskräfte und Richter stehen harte Strafen. Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird zudem durch neue Vorgaben gefährdet, wonach Nachrichtenportale im Internet einer Registrierungspflicht unterliegen und Internet Service Provider auf Verlangen der Regierung unmittelbar verpflichtet sind, den Internetzugang bestimmter Gruppen und Individualpersonen zu sperren. Darüber hinaus bekommt der Staat größere Befugnisse zur Auflösung religiöser Organisationen.

Amnesty fordert die sofortige Rücknahme dieser belastenden Gesetzesänderungen.

Hier finden Sie weitere Informationen zu Menschenrechtsverletzungen bei den Maidan-Protesten, Amnesty Internationals öffentliche Stellungnahme zur neuen repressiven Gesetzgebung sowie den Artikel "Ukraine’s new charter for oppression".

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