Amnesty Report 08. Juni 2016

Niger 2016

 

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram verübte 2015 völkerrechtliche Verbrechen, die zu einer Eskalation des Konflikts und einer steigenden Zahl von Binnenvertriebenen führten. Die Behörden verhängten über die Region Diffa den Ausnahmezustand. Menschenrechtsverteidiger wurden willkürlich festgenommen. Die Regierung schränkte das Recht auf freie Meinungsäußerung ein. Tausende Flüchtlinge wurden nach Nigeria abgeschoben.

Hintergrund

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram, die sich im April 2015 in Westafrikanische Provinz der Organisation Islamischer Staat umbenannte, verschärfte ihre Angriffe auf die Zivilbevölkerung. Betroffen war vor allem die Region Diffa im Südosten des Landes, die an Nigeria und den Tschadsee grenzt. Die Zerstörungen und die Vertreibung von Menschen durch die Angriffe sowie Maßnahmen der Regierung gegen Boko Haram trugen dazu bei, dass sich die ökonomische Situation des Landes verschlechterte und eine starke Lebensmittelknappheit herrschte. Nach einem Putschversuch im Dezember 2015 wurden neun Armeeangehörige festgenommen, die sich vor einem Militärgericht verantworten müssen.

Bewaffneter Konflikt

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram verübte 2015 mehr als 20 Angriffe auf zivile Objekte und Militäreinrichtungen in der Region Diffa. Dabei wurden mindestens 190 Zivilpersonen und 60 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet.

Im April 2015 griffen Mitglieder von Boko Haram die Insel Karamga im Tschadsee an. Sie umzingelten die Insel in der Nacht mit Booten und erschossen 28 Zivilpersonen und 46 Armeeangehörige. Von Juni bis Dezember verübte die bewaffnete Gruppe weitere Angriffe und Selbstmordattentate in der Region Diffa.

Die Sicherheitskräfte führten Vergeltungsschläge aus und nahmen mehr als 1000 Personen fest. Im Februar 2015 bombardierten die nigrischen Streitkräfte einen Lkw-Konvoi, der Räucherfisch nach Nigeria transportierte. Der Handel mit Räucherfisch war während des Ausnahmezustands verboten, weil vermutet wurde, dass er für Boko Haram eine Nahrungs- und Einkommensquelle darstellte.

Im Februar 2015 bombardierte ein nicht identifiziertes Militärflugzeug in Abadam (Niger) nahe der Grenze zu Nigeria einen Trauerzug. Dabei wurden mindestens 36 Zivilpersonen getötet.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte äußerte sich im September besorgt über die Angriffe auf Zivilpersonen, die von Boko Haram und den Streitkräften Nigers verübt wurden.

Sicherheitsmaßnahmen

Die Folgen der Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen wurden durch die staatlichen Reaktionen darauf noch verschlimmert, insbesondere durch Zwangsräumungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.

Im Februar 2015 verhängte die Regierung den Ausnahmezustand über die gesamte Region Diffa. Er wurde im Mai um drei Monate verlängert und im Oktober erneut ausgerufen. Während des Ausnahmezustands galt ein Fahrverbot für Zweiräder und für Fahrzeuge, die in Nigeria zugelassen waren. Außerdem war der Verkauf von Pfeffer und Fisch untersagt. Nach Selbstmordanschlägen, an denen Frauen beteiligt waren, die eine Burka trugen, verboten die Behörden im Juli 2015 das Tragen von Kleidungsstücken, die die Wangen verhüllen. Ein Imam, der gegen diese Maßnahme protestierte, wurde im Juli ohne Anklageerhebung zwei Tage lang inhaftiert.

Nach Angaben des UN-Hochkommissars für Menschenrechte griffen das Innen- und das Verteidigungsministerium in Gerichtsverfahren ein, was zur erneuten Festnahme von Personen führte, die im Verdacht standen, Boko Haram anzugehören, aus Mangel an Beweisen zuvor jedoch freigesprochen worden waren. Die beiden Ministerien weigerten sich, Vorwürfen nachzugehen, Armeeangehörige seien für Folter und andere Misshandlungen verantwortlich. Zur Begründung hieß es, dies könne zur Demoralisierung der Streitkräfte führen.

Außerdem äußerte sich der UN-Hochkommissar für Menschenrechte besorgt über die Lage von 40 Minderjährigen, die im Juli 2015 in der Region Diffa festgenommen und zunächst in den Gefängnissen von Koutoukale und Kollo inhaftiert worden waren. Später kamen sie in die Abteilung für minderjährige Strafgefangene des Gefängnisses der Hauptstadt Niamey.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Das Recht auf freie Meinungsäußerung war 2015 sehr stark einge-schränkt. In einigen Fällen wurde zur Begründung auf die nationale Sicherheit verwiesen.

Im Juni 2015 wurden die beiden Zeitungen L’Actualité und L’Opinion mit einem einmonatigen Erscheinungsverbot belegt, weil sie "gegen journalistische Regeln" verstoßen hätten. Die Aufsichtsbehörde für Medien (Conseil Supérieur de la Communication) nannte keine weiteren Einzelheiten.

Der Generalsekretär der Bürgerrechtsorganisation Alternatives Espaces Citoyens, Moussa Tchangari, wurde im Mai 2015 festgenommen, als er acht Dorfvorstehern in der Region Diffa Lebensmittel brachte. Sie waren ihrerseits wegen "mangelnder Kooperation mit den Behörden im Kampf gegen Boko Haram" festgenommen worden. Die Bürgerrechtsorganisation hatte der Regierung vorgeworfen, angesichts der Angriffe von Boko Haram den Schutz der Menschenrechte zu vernachlässigen. Moussa Tchangari wurde nach zehn Tagen vorläufig freigelassen.

Nouhou Azirka, der Präsident der Bewegung zur Förderung eines verantwortungsbewussten Bürgertums (Mouvement pour la Promotion de la Citoyenneté Responsible) wurde im Mai 2015 wegen "Gefährdung der nationalen Abwehr" in Polizeigewahrsam genommen. Er hatte in einem Fernsehinterview erklärt, Armeeangehörige in der Region Diffa hätten sich über schlechte Arbeitsbedingungen beschwert. Nach vier Tagen wurde er vorläufig aus der Haft entlassen.

Im November 2015 wurden fünf Journalisten festgenommen, darunter auch Souleymane Salha von der Wochenzeitung Le Courrier. Nach zehn Tagen kam er ohne Anklageerhebung wieder frei.

Binnenvertriebene und Flüchtlinge

Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebenen stieg 2015 stark. Dies führte insbesondere im Süden des Landes zu einer Verschärfung der humanitären Lage. Ende 2015 lebten in Niger mehr als 115 000 Menschen, die vor Konflikten in Nigeria, Libyen und Mali geflohen waren. Außerdem gab es mehr als 100 000 Binnenvertriebene und Rückkehrer.

Im April 2015 ordnete der Gouverneur der Region Diffa nach einem Angriff der bewaffneten Gruppe Boko Haram die Räumung von Inseln im Tschadsee an. Die Bewohner mussten sich auf einen langen Marsch in das Lager N’guigmi begeben, dabei starben unterwegs mindestens 14 Menschen an Hunger, Durst und Hitze. Berichten zufolge verhinderten Armeeangehörige, dass lokale Transportunternehmen die Menschen in das Lager brachten. Bei der Ankunft im Lager gab es dort nicht genug Wasser, Lebensmittel und andere grundlegende Güter.

Im Januar und im Mai 2015 schob die Armee Tausende Flüchtlinge nach Nigeria ab, mit der Begründung, sie würden die Gewalt von Boko Haram ins Land bringen.

Haftbedingungen

Die Gefängnisse waren nach wie vor sehr stark überbelegt. Nach Angaben zivilgesellschaftlicher Gruppen befanden sich Ende 2014 im Zivilgefängnis von Niamey 1000 Personen, obwohl es nur für 350 ausgelegt war.

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