Blog 25. Juni 2015

Fußballfans auf der Anklagebank

Am siebten Tag der Proteste gegen den geplanten Umbau des Gezi-Parks im Juni 2013 demonstrierten die Menschen in Istanbul auf dem Taksim Platz.

35 Mitglieder des Istanbuler Fußball-Fanclubs Çarşı sind angeklagt, während der Gezi-Proteste 2013 einen "Putschversuch" durchgeführt zu haben. Am 26. Juni findet die dritte und letzte Anhörung statt.

Barbara Neppert ist Sprecherin der ehrenamtlichen Türkei-Koordinationsgruppe der deutschen Amnesty-Sektion

Ein Bagger, Schutzmasken, eine Wasserflasche. Das sind einige der angeblichen Beweismittel mit denen 35 Mitgliedern des Fußball-Fanclubs Çarşı der Prozess gemacht wird. Der Vorwurf lautet "Putschversuch". Das Strafmaß ist ähnlich absurd wie die Anklage selbst: Bei einer Verurteilung droht den Beschuldigten lebenslange Haft.



Warum sich Istanbuler Fußballfans wegen eines angeblichen "Putschversuches" verantworten sollen, hat einen Grund: Sie sind Mitglieder des Fanclubs Çarşı, der das Istanbuler Team Beşiktaş unterstützt. Çarşı hat sich vor allem durch die Choreographien und Gesänge auf der Tribüne einen Namen gemacht. Seine Mitglieder setzen sich aber auch für soziale und ökologische Themen ein – sowie bei den Gezi-Protesten im Sommer 2013. Der Fanclub gehörte zu den wichtigsten Gruppen, die trotz massiver Polizeigewalt weiter demonstrierten. Viele von ihnen wurden deshalb festgenommen.



Amnesty International hat das Gerichtsverfahren von Anfang an kritisiert. Nicht nur wegen des Strafmaßes, sondern auch weil es symptomatisch für den Umgang der türkischen Behörden mit den Gezi-Protesten steht. Statt die Verantwortlichen der Polizeigewalt zur Rechenschaft zu ziehen, wurden Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Proteste kriminalisiert. Bis heute haben türkischen Behörden gegen rund 5500 Demonstrierende Strafverfahren eingeleitet. Durch ein Gesetzespaket zur "inneren Sicherheit" wurde das Demonstrationsrecht im April 2015 weiter eingeschränkt.

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Am 18. Juni 2015 waren der Verteidiger Avukat İnan Kaya, sowie die Rechtsanwältin Anna Luczak in Berlin geladen, um das Strafverfahren gegen den Fußballclub Çarşı näher zu beleuchten.

Dass die Anklage gegen Çarşı politisch motiviert ist, zeigte sich bereits am ersten Verhandlungstag, dem 16. Dezember 2014. Nachdem man die ersten 27 Beschuldigten angehört hatte, war schnell klar, dass dort Fußballfans und keine Mitglieder einer angeblichen "Terrororganisation" auf der Anklagebank saßen. Das Gleiche galt für den zweiten Prozesstag, dem 2. April 2015, an dem ich im Istanbuler Gericht Çağlayan als Prozessbeobachterin teilnahm. Polizeizeugen, die eigentlich gegen die Çarşı-Mitglieder aussagen sollten, gaben an, nie in eine Auseinandersetzung mit ihnen verwickelt gewesen zu sein.  



An diesem Tag traf ich mich mit İnan Kaya, einem der Çarşı-Anwälte, der uns über die Details des Verfahrens informierte. Zusammen mit ihm und dem Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V. (RAV) hat unsere Türkei-Kogruppe am 18. Juni 2015 in Berlin eine Veranstaltung zum Gerichtsprozess organisiert. Auch hier betonte İnan Kaya, dass Çarşı nie die Proteste gelenkt habe: "Es gab keinen Aufruf, keine Organisation, es sind einfach alle gekommen".  



Am heutigen Freitag findet der dritte und letzte Prozesstag statt. Angesichts der dünnen Beweislage hoffen Amnesty International und die vielen Unterstützer von Çarşı auf einen Freispruch. Im Kontext der Gezi-Proteste wurde in einem ähnlich grotesken Verfahren mehreren Mitgliedern der Plattform "Taksim Solidarität" die "Gründung einer kriminellen Vereinigung" vorgeworfen. Diese Anklage wurde Ende April fallengelassen.

Wie verschiedene Quellen berichten, wurde die letzte Anhörung auf den 11. September 2015 vertagt.

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