Blog Italien 27. September 2014

"Das ist eine Schande für Europa"

Namenlose Gräber von Flüchtlingen auf dem Friedhof von Lampedusa.

Die Abschottungspolitik der Europäischen Union drängt Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten immer wieder auf die gefährlichere Route über das Mittelmeer. Eine internationale Amnesty-Delegation reist zurzeit durch Italien, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen. Hier berichtet Delegationsteilnehmerin Selmin Çalışkan von ihren Eindrücken und Erlebnissen.

Selmin Çalışkan ist seit März 2013 die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.

 

In den vergangenen Tagen bin ich drei Mal über das Mittelmeer geflogen. Erst von Rom nach Palermo auf Sizilien, dann von dort zur Insel Lampedusa und wieder zurück nach Palermo. Als ich aus dem Flugzeugfenster sah, lag das Meer still und friedlich unter uns. Doch jedes Mal, wenn ich ein kleines Boot oder Schiff erkannte, erschrak ich und dachte sofort: "Hoffentlich sind das keine Flüchtlinge, die in Seenot sind..."

Wenn man das Meer von oben betrachtet, denkt man automatisch an die Menschen, die dort ihr Leben verloren haben auf ihrer Flucht nach Europa. Und das nur, weil die EU die Landesgrenzen dicht gemacht hat und sich immer mehr abschottet. Die einzige Möglichkeit, die vielen Flüchtlingen bleibt, um Schutz in Europa zu suchen, ist die Überfahrt in zumeist seeuntauglichen Booten über das Meer, das all zu oft alles andere als still und friedlich ist.

Im Alleingang hat Italien im Oktober 2013 "Mare Nostrum" gestartet, eine groß angelegte Seenotrettungsaktion, die seitdem über 100.000 Menschen im Mittelmeer das Leben gerettet hat. Doch diese Operation soll nun im Herbst auslaufen, und noch ist nicht klar, wie es dann weiter geht. Aber wer wird dann die Flüchtlinge retten? Wer beschäftigt sich ehrlich mit dieser Frage?

Präsentation im Hauptquartier der Operation "Mare Nostrum" in Rom.

Um mir selbst ein Bild von der Lage vor Ort zu machen, reise ich seit Donnerstag mit einer internationalen Amnesty-Delegation durch Italien. Mit dabei ist der Direktor der italienischen Sektion, Gianni Rufini, sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Aktivistinnen und Aktivisten der italienischen und französischen Amnesty-Sektion. Die deutsche Amnesty-Sektion wird neben mir vertreten durch die Asyl-Referentin Franziska Vilmar, den Leiter der Abteilung "Kampagnen und Kommunikation" Markus Beeko, Schauspieler und Amnesty-Unterstützer Benno Fürmann und Amnesty-Mitglied Ingeborg Heck-Böckler, die sich in Aachen seit Jahrzehnten für Flüchtlinge politisch aber auch ganz praktisch einsetzt.

Gemeinsam machen wir von Amnesty das, was eigentlich auch die Europäische Union tun sollte: über Landesgrenzen hinweg zusammenarbeiten und sich solidarisch zeigen mit den  Flüchtlingen und denjenigen, die sich für sie einsetzen.

Der erste Termin unserer Reise führte uns am Freitag ins das Hauptquartier von "Mare Nostrum" in Rom, wo uns dutzende Offiziere und eine Ärztin von ihrer Arbeit und ihren Erfahrungen berichteten. Sie sehen ihre Operation nicht als militärische, sondern als rein humanitäre Aktion an. Unter den Offizieren waren auch Männer, die selbst bereits ins Meer gesprungen sind, um Menschen zu retten. Ihnen konnte man ansehen, wieviel Leid sie gesehen haben. Für sie ist es selbstverständlich, Flüchtlinge auf hoher See zu retten und aufs sichere Festland zu bringen –  wohlwissend, dass viele ihrer Landsleute es lieber sehen würden, wenn die Flüchtlinge nicht nach Italien kämen.

Selmin Çalışkan im Gespräch mit Offizieren, die an der Operation "Mare Nostrum" beteiligt sind.

 

Die Marine-Angehörigen waren uns gegenüber sehr transparent und hielten mit ihrer Meinung auch nicht hinter dem Berg, als ich ihnen sagte, dass die deutsche Politik "Mare Nostrum" kritisiert und oft davon spricht, dass Flüchtlinge nur über das Mittelmeer kommen, weil sie wüssten, dass "Mare Nostrum" sie retten würde. Das hat die Offiziere nicht kalt gelassen. Diesen Menschen zu unterstellen, ihr eigenes Leben und das ihrer Familie zu riskieren, fanden sie alle absurd und vor allem zynisch. Die Menschen würden so oder so kommen, da es überall in der Region Zunehmend Krieg und Konflikte gibt.

Die Offiziere kritisierten ihrerseits, dass es auf EU-Ebene ganz klar an politischem Willen fehle, gemeinsam eine Lösung zu finden, wie Flüchtlingen und den Ländern, die sie aufnehmen, geholfen werden kann. Das Problem der Zusammenarbeit sei kein technisches.

Donnerstagabend flogen wir dann über Palermo auf die Insel Lampedusa, die in den vergangenen Jahren Anlaufstation für tausende Flüchtlinge war und vor deren Küste sich immer wieder Tragödien ereignen. Am Freitag trafen wir u.a. die Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini. Auf dieses Treffen hatte ich mich schon seit langem gefreut. Sie war sehr freundlich und offen, gleichzeitig aber auch gezeichnet von der Zeit, in der es mehr Flüchtlinge als Einwohnerinnen und Einwohner auf der Insel gab. Man konnte ihr die Erschöpfung ansehen. Sie ist eine zierliche Person mit viel Kraft, auf der viel Verantwortung lastet.

Im Amtszimmer von Giusi Nicolini (Bildmitte), der Bürgermeisterin von Lampedusa.

Nicolini sagte uns, dass Lampedusa das Alibi für Europa sei, das ja eigentlich seinem Selbstverständnis nach für Menschenrechte steht. Doch es waren die Menschen auf Lampedusa, die sich um die Flüchtlinge kümmerten – und nicht die Behörden oder Politiker, weder in Italien noch auf EU-Ebene. Die Bürgermeisterin stellte klar: "Es ist eine Schande für Europa, wie die Flüchtlinge und die Inselbewohnerinnen und –bewohner immer wieder allein gelassen werden".

Und natürlich bekamen auch die Kinder hier mit, was vor ihrer Küste passiert, wenn im Hafen die Särge für die im Meer geborgenen Leichen der Flüchtlinge stehen. Ein kleiner Junge fragte die Bürgermeisterin einmal: "Aber warum nehmen die Menschen denn nicht einfach ein Flugzeug, um hierher zu kommen?" Ja, warum müssen Menschen eigentlich ihr Leben riskieren, um in Europa Schutz zu finden? Das ist die Kernfrage, der sich alle stellen müssen - denn es werden weiter Menschen kommen.

Das Treffen mit der Bürgermeisterin hat mich beeindruckt. Genauso wie Mimmo Zambito, der Pastor von Lampedusa, der den Flüchtlingen hilft, wo er nur kann. Er begreift einfach nicht, dass Europa wegschaut, wenn Menschen aus Angst vor Krieg und Gewalt so verzweifelt sind, dass sie ihr Leben auf dem Meer riskieren und dabei sterben... Und ich begreife es auch nicht.

Selmin Çalışkan und Pastor Mimmo Zambito.

Doch trotz allem habe ich mit Mimmo auch laut gelacht, als er mir erzählte, dass er früher Amnesty-Mitglied war und Briefe an politische Gefangene ins Gefängnis geschrieben hatte. Dabei erkannte er, was Menschenrechte wirklich für andere und das eigene Leben bedeuten – und genau deshalb wurde er Priester.

Auf Lampedusa trafen wir auch den Kommandanten der Küstenwache, Giuseppe Cannarile. Als wir auf das große Bootsunglück vom 3. Oktober 2013 zu sprechen kamen, bei dem ungefähr 390 Flüchtlinge aus Somalia und Eritrea vor Lampedusa ertranken, musste er erstmal vor Anspannung eine Zigarette anzünden und bat uns, das Gespräch nicht zu filmen. Danach sprachen wir mit den Anwälten Francesca Cucchi und Cristian Corvini, die NGOs und die Küstenwache in asylrechtlichen Fragen beraten, und trafen darüberhinaus die Aktivistin Paola Rosa vom "Komitee 3. Oktober".

Giuseppe Cannarile, der Kommandant der Küstenwache von Lampedusa.

Sie ging mit uns auf den Friedhof der Insel, der geradezu pittoresk wirkte mit seinen hellen, gepflegten Grabsteinen und Steinplatten, teilweise verziert mit kleinen Statuen oder Fotos der Verstorbenen. Doch inmitten dieses akkurat gepflegten Friedhofs gibt es eine Grasfläche mit kleinen aufgeschütteten Erdhügeln. Dort liegen die Gräber der Flüchtlinge, die tot aus dem Wasser geborgen wurden. Ihre Gräber sind versehen mit schiefen Holzkreuzen, ohne Namen. Man weiß nicht, wer hier begraben liegt. Es ist schwer, Menschen zu gedenken, die keinen Namen und kein Gesicht haben. Wenn man nicht weiß, wo er oder sie herkam. Was hinter ihnen lag. Was sie sich erhofft hatten...

Aber auch an einigen dieser Gräber liegen frischen Blumen. Hingelegt von den Bewohnerinnen und Bewohnern. Und das hat mich sehr berührt, denn es zeigt: Diese Flüchtlinge kannte hier niemand – und trotzdem gibt es hier Menschen, die an sie denken und die Erinnerung an sie wachhalten.

Doch niemand, den wir in den vergangenen Tagen getroffen haben, egal ob von "Mare Nostrum" oder auf Lampedusa, fühlte sich, als hätten sie etwas Heldenhaftes getan. Sie sind bescheiden, fast demütig, weil sie mit eigenen Augen menschliche Tragödien miterlebt haben. Und auch die Ohnmacht angesichts des allgegenwärtigen Todes. Aber es steht für sie außer Frage, dass sie das richtige tun.

Geborgene Wracks von Flüchtlingsbooten auf Lampedusa.

Wir sind allen Menschen sehr dankbar, die sich Zeit genommen haben, uns ihre Sicht der Dinge und ihre Erfahrungen zu schildern. Aber auch wir wurden mit großer Dankbarkeit empfangen. Die Menschen freuten sich über unsere Solidarität und den Einsatz von Amnesty auf Kampagnen- und Lobby-Ebene in Europa, denn sie wissen, dass unsere Stimme laut ist und zählt, wenn es um politischen Druck geht.

Und politischer Druck ist dringend nötig – denn alle sind sich einig: Mare Nostrum ist nur eine Notlösung, solange sich der Rest der EU nicht verantwortlich fühlt. Einige Gesprächspartner sagten uns, dass ein humanitäres Visum eine Lösung wäre. Flüchtende könnten es in den Botschaften oder beim UNHCR oder bei den Büros der EU-Delegationen direkt vor Ort beantragen, um dann sicher nach Europa kommen zu können, um Schutz zu beantragen. Alle waren sich auch darüber einig: Flüchtlinge sind kein Sicherheitsproblem. Und Europa braucht Einwanderung.

 

Lesen Sie auch die anderen Blog-Texte über die Amnesty-Reise nach Italien:

Ingeborg Heck-Böckler: Europa, was machst du an deinen Grenzen?!

Benno Fürmann: "Die Hilfsbereitschaft der Menschen hat mich beeindruckt"

Selmin Çalışkan: Europa darf das Mittelmeer nicht zum Massengrab machen

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