Blog Deutschland 17. Dezember 2015

"Menschenrechte sind nicht verhandelbar"

Selmin Çalışkan am 12. Dezember 2015 beim SPD-Parteitag in Berlin

Auf Einladung des SPD-Parteivorstandes hat Selmin Çalışkan am 12. Dezember 2015 beim SPD-Parteitag zur Bedeutung der Menschenrechte in der Außenpolitik gesprochen und hat die Zusammenhänge am Beispiel unserer aktuellen Anliegen im Bereich des Flüchtlingsschutzes und der Flüchtlingspolitik deutlich gemacht.

Eine wichtige Aufgabe von Amnesty International ist es, unsere Anliegen zu Menschenrechtsthemen gegenüber der deutschen Politik zu vertreten. So weisen wir in regelmäßigen Gesprächen mit Abgeordneten des Bundestages sowie im direkten Austausch mit Mitarbeitern von Ministerien auf Menschenrechtsverletzungen hin und fordern sie auf, Maßnahmen zu ergreifen, die diese beenden, aufklären und Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen. Dabei ist es für Amnesty auch ein Anliegen, dass die deutsche Außenpolitik grundsätzlich menschenrechtsbasiert sein muss. Das heißt auch: andere Interessen der Außenpolitik dürfen nicht gegenüber Menschenrechten ausgespielt werden. Dieses Thema hat Selmin Çalışkan auf den SPD-Parteitag mitgenommen, um die Delegierten dazu aufzufordern, dies in ihrer politischen Grundsatzarbeit zu berücksichtigen, wenn sie dort ihre Leitanträge zur Außenpolitik und zur Flüchtlingspolitik abstimmen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Tag an dem Ihr Parteitag begann, der 10. Dezember, war wie jedes Jahr, der Tag der Menschenrechte. Am 10. Dezember 1948 einigten sich die damals 56 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen auf einen Katalog von Grundrechten. Grundrechte, die auf Gleichheit, Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit basieren. Sie schufen damit ein Wertesystem, das für alle Menschen gelten sollte.

Für alle – unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion, Alter, sozialem Status oder politischer Überzeugung.

Schöne Worte, nicht wahr? Ich bin sicher, ein jeder von uns wird ihnen von ganzem Herzen zustimmen.

Schöne Worte zu finden, ist leicht. Und sie mit anderen zu teilen. Sie machen sich immer wieder gut auf Jahrestagen, auf festlichen Veranstaltungen, auf Parteitagen. Sie geben uns ein gutes Gefühl, erheben und erbauen uns.

Aber wehe, wir müssen sie ernst nehmen. Wehe, wir müssen uns tatsächlich an ihnen messen lassen. Wehe, wir müssen selbst etwas tun, um diese Worte mit Leben zu füllen. Wehe, wir müssen gar etwas abgeben.

Dann vergessen wir die schönen Worte auch schon mal, oder wir wägen sie ab, oder interpretieren sie zu unserem Nutzen.

Die Bundesregierung macht Geschäfte mit Staaten wie Usbekistan, ohne sich gleichzeitig ernsthaft gegen die Unterdrückung  regierungskritischer Stimmen einzusetzen, die im Keim erstickt und Menschen systematisch gefoltert werden.

Die Bundesregierung macht die Türkei zum wichtigen Partner in der Abschottung. Ohne dabei die rasanten Einschränkungen der Bürgerrechte zu thematisieren.

Nicht mal in unseren eigenen Bündnissen, in denen wir uns auf gemeinsame Werte und die Menschenrechte berufen, oder gegenüber "Freunden" übt die Bundesregierung ausreichend Kritik, wenn sie gegen eben diese verstoßen. So hört man wenig Kritik an den USA – die Bundesregierung  fordert auch nicht strafrechtlich gegen jene Folterer zu ermitteln, die innerhalb des CIA Folterprogramms gegen das absolute Folterverbot verstoßen haben – oder gar gegen die, die diese Maßnahmen angeordnet haben.

All diese Beispiele zeigen: Menschenrechte werden in der sogenannten Realpolitik anderen Interessen regelmäßig geopfert. Dabei geht es um nicht verhandelbare Rechte! Es wird höchste Zeit, dass der Schutz von Menschenrechten endlich als Interesse ernstgenommen wird. Auch wenn wir Fluchtursachen bekämpfen wollen!

Im Jahr 2015 befinden sich 60 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht. So viele wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Und zwar nicht erst seit gestern. Lange Zeit war es uns nur nicht besonders wichtig. Ja, wir wussten, da tobt ein Krieg in Syrien, unangenehme Sache, aber solange wir die Folgen nicht am eigenen Leib spüren mussten...Wir hörten davon, dass Millionen in Flüchtlingslagern unter schwierigsten Bedingungen leben müssen. Ja, wirklich nicht schön. Aber es war, um es salopp auszudrücken, nicht unsere Angelegenheit.

Nun sehen alle, es geht uns doch was an. Das heißt: Erst als eine große Anzahl an Flüchtlingen in unser Land kam, begreift jeder von uns, dass es uns auch etwas angeht. Dabei ging es das von Anfang an.

Denn, meine Damen und Herren,

es geht um Menschenrechte!

Menschenrechte sind universell und unteilbar. Menschenrechtsverletzungen lassen sich nicht verleugnen, abkapseln, isolieren. Sie sind die gravierendsten Fakten, die uns die Realität liefert, sie treten zutage, sie berühren jeden von uns.

Menschenrechte sind das Fundament menschlichen Zusammenlebens. Das Verletzen der Menschenrechte ist der Beginn allen Übels. Egal, ob es um menschenunwürdige Löhne und menschunwürdige Arbeitsbedingungen geht, ob um Diskriminierung oder Folter.

Das Bewahren der Menschenrechte ist der Schlüssel zur Lösung. Ich bin sicher, ich habe damit Sie, meine Damen und Herren von der deutschen Sozialdemokratie, auf meiner Seite.

Politik beginnt mit der Achtung von Menschenrechten. Mit Rechten, wohlgemerkt. Denn häufig werden Rechte zu Werten umgedeutet. Und Werte, die sind nicht einklagbar, die sind nur wünschenswert. Meine Damen und Herren, ich spreche von Menschen...rechten!

Ich spreche von Menschenrechten, um jedes einzelnen Menschen Willens. Aber auch um unser aller Willen. Denn Frieden und Wohlstand für uns alle lassen sich langfristig nicht anders bewahren.

Ungerechtigkeit bricht sich Bahn. Sie lässt sich auch nicht durch Grenzen aufhalten. Kurzfristig vielleicht. Langfristig – niemals.

Wir von Amnesty sind überzeugt: bei der sogenannten "Flüchtlingskrise" handelt es sich in Wirklichkeit um eine politische Krise. Eine internationale Krise mangelnder Verantwortung und Solidarität. Eine Krise, ausgelöst und verschärft dadurch, dass wir die Menschenrechte nicht ernst genug nehmen.

Wenn wir uns wirklich an Menschenrechten orientieren würden - Und wie können wir uns anmaßen, das nicht zu tun? Dann läge auf der Hand, was wir tun sollten.

Zum Beispiel: Für mehr legale Einreisemöglichkeiten sorgen. Denn das würde Menschen davor bewahren, im Meer zu ertrinken oder in Lastern zu ersticken. Ein groß angelegtes Programm zur direkten Aufnahme von Menschen aus den Flüchtlingslagern, wie aktuell von der Regierung vorgeschlagen, wäre ein wichtiger Schritt.

Wenn wir uns wirklich an Menschenrechten orientieren würden - Und wie können wir uns anmaßen, das nicht zu tun? Dann würden wir nicht hinnehmen, dass überall in Europa Zäune der Verzweiflung entstehen. An denen sich geschundene Menschen, Mütter, Schwangere, Kinder die Zähne ausbeißen. Ich habe es selbst gesehen.

Wenn wir uns wirklich an Menschenrechten orientieren würden - Und wie können wir uns anmaßen, das nicht zu tun?

- Dann würden wir uns nicht mit menschenrechtsverletzenden Ländern wie Eritrea an einen Tisch setzen, um Kooperationen im Migrationsmanagement abzuschließen.

- Gegenvorschlag: Dann würden wir dringend notwendige Unterstützung der Türkei bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht daran koppeln, dass die Türkei der neue europäische Grenzwächter wird. Ein Grenzwächter, der aktuell Syrer und Iraker in ihre Heimatländer abschiebt.

- Dann würden wir gegen Ungarn ein Verfahren nach Art.7, I des EU-Vertrages einleiten, wegen der Verletzung von Menschenrechten.

Aber das würde vielleicht zu diplomatischen Verwicklungen führen. Und das wollen wir dann lieber doch nicht.

Stattdessen setzt unsere Regierung Asylrechtsverschärfungen durch, wie seit den 1990er Jahren nicht mehr.

Und schon sollen noch weitere Verschärfungen folgen: Beschleunigte Verfahren, die innerhalb von drei Wochen abgeschlossen werden sollen. In dieser Zeit dürfen die Betroffenen den Bezirk ihres Registrierungszentrums nicht verlassen. Auch Amnesty setzt sich für eine zügige Bearbeitung der Verfahren ein. Aber sie müssen fair bleiben.

Drei Wochen - wie soll das gehen, bei bis zu 1000 Asylsuchenden pro Unterkunft? Haben wir wirklich überall so viele Rechtsanwälte zu viel? Hat die Bundesregierung schon nachgezählt wie viele Rechtsanwälte im Ausländerrecht es dort, in Manching oder Bamberg überhaupt gibt? Ist es unter diesen Umständen wirklich möglich, Fristen einzuhalten? Wir von Amnesty fürchten, faire Verfahren sind unter diesen Bedingungen nicht möglich.

Und dann haben wir ja noch die Debatte über Obergrenzen. Und der Familienzuzug soll auch noch eingeschränkt werden. Ich danke denjenigen von Ihnen, die vehement dagegen zu Felde ziehen, zum Beispiel Familienministerin Manuela Schwesig.

Ich bitte Sie, dieser Linie treu zu bleiben und die geplanten Einschränkungen beim Familiennachzug für subsidiär Geschütze aus dem Asylpaket II raus zu handeln.

Wir von Amnesty sind keine Phantasten. Wir kennen die Stimmung im Land. Wir wissen, dass nicht alles geht, was wünschenswert ist. Aber wir beharren darauf, das geht, was Menschenrecht ist.

Asyl zu suchen ist ein Menschenrecht. Zusammen mit der Familie leben zu können, ist ebenfalls ein Menschenrecht. Und Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie: informieren Sie sich, tun Sie, was recht ist und bleiben Sie sich treu,

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