Amnesty Report Großbritannien und Nordirland 16. April 2020

Großbritannien und Nordirland 2019

Eine junge Frau hält ein Plakat hoch, dahinter weitere Plakate.

Antiterrorgesetze schränkten die Bürgerrechte weiterhin ein. Foltervorwürfe gegen Angehörige der Nachrichtendienste und Streitkräfte waren nach wie vor nicht umfassend aufgearbeitet. In Nordirland konnten erhebliche Fortschritte verzeichnet werden, was die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe und den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen anging.

Gesetzliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Im Oktober 2019 wurde der zweite Entwurf einer Politischen Erklärung veröffentlicht, die den Rahmen für die künftigen Beziehungen nach dem Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (Brexit) absteckt. Im Gegensatz zum ersten Entwurf waren die Zusicherungen bezüglich eines Verbleibs Großbritanniens in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unverbindlicher. Die britische Regierung bestätigte, bei bedeutenden künftigen Militäreinsätzen von der EMRK abweichen zu wollen, wann immer sie dies für notwendig halte.

Die schottische Regierung unternahm Schritte, um ihre Zusage zu erfüllen, dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes Geltung zu verschaffen, indem sie zusicherte, die Umsetzung von UN-Verträgen auf Gesetzesebene beschleunigen zu wollen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Ein neues Antiterror- und Sicherheitsgesetz (Counter-Terrorism and Border Security Act 2019) warf gravierende Bedenken bezüglich der Menschenrechte auf, weil es neue Straftatbestände einführte. Hierzu zählte, in "bestimmte Gebiete" im Ausland einzureisen, bzw. sich dort aufzuhalten; Meinungen oder Ansichten zugunsten einer verbotenen Organisation zu äußern, wenn damit auf fahrlässige Weise zur Unterstützung dieser Organisation angeregt wird; Bilder zu veröffentlichen, auf denen Gegenstände oder Kleidungsstücke zu sehen sind, die auf Mitgliedschaft oder Unterstützung einer verbotenen Organisation hindeuten, und sich "terrorismusbezogenes" Material im Internet anzusehen. Darüber hinaus verlieh der Anhang des Gesetzestextes dem Grenzschutz neue Befugnisse. Er darf künftig Personen auf Grundlage eines vage definierten Konzepts "feindlicher Aktivitäten" ohne Verdachtsgrundlage inhaftieren oder durchsuchen.

Für das zur Terrorbekämpfung eingeführte staatliche "Prevent"-Programm wurde 2019 eine gesetzliche Untersuchungskommission eingerichtet. Zahlreiche NGOs kritisierten allerdings Umfang und Ansatz der Untersuchung und warfen dem Kommissionsvorsitzenden Parteilichkeit vor. Er wurde daraufhin seines Postens enthoben.

Die Regierung entzog Personen, die nach Syrien oder in den Irak gereist waren und mutmaßlich Verbindung zur bewaffneten Gruppe Islamischer Staat (IS) hatten, die britische Staatsbürgerschaft, darunter war mindestens eine Frau, die als Kind von Großbritannien nach Syrien gezogen war.

Todesstrafe

Im Januar 2019 wies das Hohe Gericht Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des Innenministeriums im Fall von Shafee El Sheikh zurück. Das Ministerium hatte einem Rechtshilfeersuchen der USA entsprochen, bei dem es um die Übersendung von Beweismitteln ging, ohne von den USA Zusicherungen zu verlangen, dass die Todesstrafe keine Anwendung finden würde. Dies widersprach der bisherigen Praxis, durch entsprechende Zusicherungen die Möglichkeit der Todesstrafe auszuschließen.

Straflosigkeit

Die Vorwürfe über mutmaßliche Kriegsverbrechen britischer Streitkräfte im Irak zwischen 2003 und 2009 wurden auch 2019 weder menschenrechtskonform untersucht noch anderweitig aufgearbeitet. Sie waren nach wie vor Gegenstand einer Voruntersuchung durch die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs. Im Juli 2019 beriet das Verteidigungsministerium über Vorschläge, wonach Armeeangehörige für Straftaten, die sie vor mehr als zehn Jahren bei Auslandseinsätzen verübt haben sollen, nicht standardmäßig strafrechtlich verfolgt werden sollen. Teil der Vorschläge war auch, bei Schadenersatzforderungen wegen Körperverletzung oder Tod in Zusammenhang mit lange zurückliegenden Ereignissen im Ausland den gerichtlichen Ermessensspielraum bezüglich der Verjährungsfrist einzuschränken.

Folter und andere Misshandlungen

Im Juni 2019 kritisierte der UN-Ausschuss gegen Folter, die britische Regierung erfülle ihre Verpflichtungen gemäß der Antifolterkonvention nach wie vor nicht.

Entgegen früherer Aussagen teilte die Regierung im Juli mit, die lange angekündigte unabhängige Kommission unter Leitung eines Richters, die untersuchen sollte, ob es im Zuge der Terrorbekämpfung im Ausland seit 2001 ein britische Mittäterschaft bei Folter und anderen Misshandlungen von Personen gab, die von anderen Ländern festgehalten wurden, werde nicht eingerichtet.

Die Überarbeitung der Richtlinien, die die Grundlage bilden für die Behandlung von Gefangenen im Ausland (Consolidated Principles), führte nicht zu den maßgeblichen Verbesserungen, die NGOs gefordert hatten. Auch in ihrer umbenannten und umgeschriebenen Form lag es weiterhin im Ermessen des Verteidigungsministeriums, Tätigkeiten zu erlauben, die ein Folterrisiko bargen. Eine Anfrage unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz brachte ans Licht, dass außerdem ein separates geheimes Dokument des Verteidigungsministeriums existierte, wonach es auch bei einem "hohen Folterrisiko" erlaubt sei, Geheimdienstinformationen zu nutzen, wenn die Minister_innen der Ansicht sind, "dass der potenzielle Nutzen das Risiko und mögliche rechtliche Folgen rechtfertigt".

Im Fall der 14 "Kapuzenmänner", die 1971 in Gewahrsam der britischen Armee und der damaligen nordirischen Polizei (Royal Ulster Constabulary) gefoltert worden waren, erlitt die nordirische Polizei (Police Service of Northern Ireland – PSNI) eine Niederlage vor dem Berufungsgericht. Nachdem die PSNI 2014 beschlossen hatte, die Ermittlungen zu dem Fall einzustellen, hatte ein Gericht entschieden, diese müssten wieder aufgenommen werden. Dagegen hatte die PSNI Rechtsmittel eingelegt, die das Berufungsgericht von Nordirland im September 2019 abwies. Im November 2019 wies das Berufungsgericht überdies den Antrag der PSNI ab, dieses Urteil vom Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs überprüfen zu lassen. Die PSNI hat jedoch Anspruch darauf, sich direkt an den Obersten Gerichtshof zu wenden.

Nordirland: Aufarbeitung der Vergangenheit

Die Regierung stellte Gelder bereit, um einen Rückstau von mehr als 90 gerichtsmedizinischen Untersuchungen abzuarbeiten, die aus dem jahrzehntelangen Konflikt resultierten. Allerdings war eine politische Übereinkunft von 2014 (Stormont House Agreement) noch immer nicht umgesetzt worden, und in mehr als 1.000 Tötungsfällen aus der Zeit des Konflikts standen neue Ermittlungen noch aus.

Im Februar 2019 urteilte der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, dass die offizielle Untersuchung der Tötung des Belfaster Rechtsanwalts Patrick Finucane im Februar 1989 ineffektiv war und nicht die Menschenrechtsstandards erfüllte. Im September 2019 kündigte die Familie des getöteten Rechtsanwalts an, sie werde sich weiterhin für eine unabhängige öffentliche Untersuchung einsetzen.

Im November wurden Gesetze verabschiedet, um Tausende Personen zu entschädigen, die zwischen 1922 und 1995 in nordirischen Kinderheimen missbraucht worden waren.

Diskriminierung

Seit April 2019 können Betroffene des sogenannten "Windrush-Skandals" Geld aus einem staatlichen Entschädigungsfonds erhalten. Allerdings hat die britische Regierung das volle Ausmaß des begangenen Unrechts noch immer nicht anerkannt, ebenso wenig wie das rassistische Gedankengut, das den entsprechenden Gesetzen und Maßnahmen zugrunde lag. In vielen Fällen wurden Menschen, die vor 1973 nach Großbritannien gekommen waren, sowie ihre Angehörigen so behandelt, als hätten sie nicht die Erlaubnis, sich hier aufzuhalten oder hierher zurückzukehren, dabei hatten sie einen Rechtsanspruch darauf, unbefristet zu bleiben, nachdem sie als britische Staatsangehörige in das Land gekommen waren.

Im Oktober 2019 traten neue Gesetze in Kraft, die eine gleichgeschlechtliche Eheschließung in Nordirland ab Januar 2020 erlaubten. Die Regierung hatte sich noch nicht zu der im Oktober 2018 abgeschlossenen Konsultation geäußert, bei der es um eine Reform des Gesetzes zur Anerkennung der Geschlechtszugehörigkeit (Gender Recognition Act) in England und Wales ging.

Frauenrechte

Der UN-Ausschuss, der die Einhaltung des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) überprüft, stellte in den abschließenden Bemerkungen seines 8. Berichts zu Großbritannien fest, das Land setze die Vorgaben der Konvention nicht konsequent um. Der CEDAW-Ausschuss machte dafür die dezentrale Struktur des Vereinigten Königreichs verantwortlich. Im Zuge der Überprüfung wurde außerdem deutlich, dass Frauen besonders stark unter den Sparmaßnahmen der Regierung zu leiden hatten, insbesondere Angehörige ethnischer Minderheiten und Frauen mit Behinderungen.

Im Juli 2019 wurde ein Gesetzentwurf gegen häusliche Gewalt (Domestic Abuse Bill) in das Parlament eingebracht. Trotz einschlägiger Empfehlungen seitens parlamentarischer Ausschüsse enthielt die Vorlage keinerlei Bestimmungen, um Sicherheit und Zugang zur Justiz für Migrantinnen zu gewährleisten.

Frauenrechtsorganisationen und Medien deckten auf, dass Vergewaltigungen in England und Wales nur unzureichend strafrechtlich verfolgt werden. Statistiken der Staatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) zeigten einen deutlichen Rückgang in der Strafverfolgung, obwohl die Zahl der Anzeigen wegen Vergewaltigung gestiegen war. Zivilgesellschaftliche Organisationen fanden heraus, dass die Polizei die Opfer sexualisierter Gewalt routinemäßig aufforderte, ihre Mobiltelefone abzugeben. Dies legte nahe, dass die Betroffenen einwilligen mussten, der Polizei für unbestimmte Zeit Zugriff auf ihre Daten zu geben, um die Ermittlungen voranzutreiben – selbst in Fällen, in denen die Täter Fremde waren oder die Tat lange zurücklag. Die britische Datenschutzbehörde (Information Commissioner's Office) nahm sich des Themas an.

Recht auf Leben

Im Oktober 2019 wurde ein erster Untersuchungsbericht über den Brand des Londoner Sozialbaus Grenfell Tower im Juni 2017 veröffentlicht, bei dem 72 Menschen starben und Dutzende verletzt wurden. Er beantwortete einige Fragen zur unmittelbaren Brandursache und zum Einsatz in der Brandnacht. Die Untersuchung wurde 2019 weiter fortgeführt und sollte sich auch mit den Entscheidungen bezüglich des Gebäudes, allgemeinen Zuständigkeiten und der Unterstützung durch die Behörden im Nachgang befassen. Der Brand hatte Fragen aufgeworfen, was Zuständigkeiten und die Einhaltung menschenrechtlicher Verpflichtungen durch Behörden und private Akteure anging, zum Beispiel hinsichtlich des Rechts auf Leben und des Rechts auf einen angemessenen Lebensstandard, einschließlich des Rechts auf angemessenen Wohnraum.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

In seinem Bericht vom Mai 2019 übte der UN-Sonderberichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte scharfe Kritik an den Sparmaßnahmen der britischen Regierung, die dazu geführt hätten, dass etwa 14 Millionen Menschen in Armut lebten und nahezu die Hälfte aller Kinder von Armut betroffen sei.

Flüchtlinge und Asylsuchende

2019 herrschte weiterhin erhebliche Unsicherheit darüber, wie es mit der Einwanderungspolitik nach dem Brexit weitergehen würde.

Einschränkungen bezüglich der Familienzusammenführung sorgten nach wie vor dafür, dass zahlreiche geflüchtete Familien nicht gemeinsam leben konnten. Erwachsene Flüchtlinge durften ihre volljährigen Kinder nicht nachholen. Großbritannien war außerdem eines der ganz wenigen europäischen Länder, in denen unbegleitete minderjährige Geflüchtete kein Recht darauf hatten, mit ihren engsten Verwandten vereint zu werden.

Es gab erhebliche Befürchtungen, dass die bisherigen Regelungen, wonach minderjährige Flüchtlinge und Asylsuchende aus EU-Mitgliedstaaten in das Vereinigte Königreich gebracht werden können – zum Beispiel, weil sie dort Familie haben – nach dem Brexit nicht mehr gelten könnten. Die Zahl der Menschen, die versuchten, per Boot nach Großbritannien zu gelangen, stieg 2019 an, dabei starben mindestens zwei Menschen. Im November wurden in einem Industriegebiet in Essex 39 vietnamesische Staatsangehörige tot in einem Kühlwagen aufgefunden. Die Regierung forderte daraufhin ein härteres Vorgehen gegen Menschenhandel und ähnliche Straftaten. Hinweise auf das Fehlen sicherer und legaler Zugangswege ignorierte die Regierung ebenso wie die Frage, inwiefern die Rhetorik, Politik und Praxis bezüglich Einwanderung dazu beitrug, dass Menschen extrem gefährliche Routen wählen.

Unternehmensverantwortung

Im Juni 2019 entschied das Hohe Gericht, dass eine Untersuchung der Ombudsstelle für Gefängnis- und Bewährungsfragen (Prisons and Probation Ombudsman) zu Fällen schwerer Misshandlung von Gefangenen unzulänglich sei, da die Ombudsstelle keine Befugnis hatte, Zeug_innen vorzuladen. Gegenstand der Untersuchung war das Abschiebezentrum Brook House, das von der privaten Sicherheitsfirma G4S geführt wird. In dem Urteil hieß es, ohne diese Befugnis ließen sich die Verpflichtungen der Regierung gemäß Artikel 3 der EMRK (Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) nicht erfüllen. Im November kündigte das Innenministerium an, man wolle den Vorwürfen nun auf Grundlage des Untersuchungsgesetzes (Inquiries Act) nachgehen.

Waffenhandel

Im Juni 2019 entschied das britische Berufungsgericht, die Entscheidung der britischen Regierung, weiterhin Waffenexporte nach Saudi-Arabien zu genehmigen, sei rechtswidrig. Das Verfahren war von der Organisation Campaign Against the Arms Trade (CAAT) gemeinsam mit Amnesty International, Human Rights Watch und Rights Watch UK angestrengt worden. Anfang 2020 soll der Fall vor dem Obersten Gerichtshof verhandelt werden. Amnesty International, Human Rights Watch und Rights Watch UK haben beantragt, als Streithelfer zugelassen zu werden.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Im Februar 2019 wurden 15 Aktivist_innen, die sich gegen Abschiebungen einsetzten, auf Grundlage eines Gesetzes schuldig gesprochen, das der Terrorabwehr dienen soll (Aviation and Maritime Security Act 1990). Die Aktivist_innen hatten sich im März 2017 auf dem Flughafen Stansted an ein Flugzeug gekettet, um einen Abschiebeflug zu stoppen. Die sogenannten "Stansted 15" erhielten keine Gefängnisstrafen, sondern wurden zu Bewährungsstrafen und Sozialstunden verurteilt. Im August 2019 gab das Berufungsgericht ihrem Antrag auf Einlegung von Rechtsmitteln gegen den Schuldspruch statt. Die Tatsache, dass zur Strafverfolgung von Aktivist_innen, die gewaltfreie Protestaktionen durchführten, Antiterrorgesetze herangezogen wurden, bot allerdings weiterhin Anlass zur Sorge.

Im Oktober 2019 erließ die Londoner Polizeibehörde ein stadtweites Verbot für Protestveranstaltungen der Umweltbewegung Extinction Rebellion gemäß Absatz 14 des Gesetzes zur öffentlichen Ordnung (Public Order Act). Im November erklärte das Hohe Gericht dieses Verbot für rechtswidrig.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Im April 2019 wurde Julian Assange in der ecuadorianischen Botschaft in London festgenommen, nachdem die ecuadorianische Regierung ihm willkürlich die Staatszugehörigkeit entzogen hatte. Er wurde wegen Verstoßes gegen seine Kautionsauflagen zu 50 Wochen Gefängnis verurteilt. Die USA beantragten die Auslieferung Assanges auf der Grundlage von 17 Anklagen unter dem Spionagegesetz (Espionage Act) und einem Anklagepunkt unter dem Cybergesetz (Computer Fraud and Abuse Act). Die Vorwürfe stehen in Zusammenhang mit der Veröffentlichung geheimer Dokumente im Zuge seiner Arbeit für Wikileaks. In den USA könnten ihm schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das Auslieferungsverfahren war Ende 2019 noch nicht abgeschlossen.

 

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