Aktuell Blog Deutschland 19. Juni 2019

Die Kontinuität des Nichtstuns - Zum Umgang mit rassistischer Gewalt in Deutschland

Eine Gruppe von vierzehn Personen steht mit ernsten Gesichtern auf einem Bürgersteig und hält Banner und Schilder hoch, auf denen unter anderem steht: "Rassistische Gewalt stoppen!"

Amnesty demonstrierte im November 2016 vor dem Bundesinnenministerium gegen die mangelhafte Aufarbeitung des NSU-Komplexes 

Seit wenigen Tagen steht ein polizeilich bekannter Rechtsextremist unter dringendem Tatverdacht, den Kasseler CDU-Politiker Walter Lübcke erschossen zu haben. Lübcke war 2015 zur Zielscheibe rechter Hetze im Netz geworden, nachdem er die Flüchtlingspolitik Angela Merkels verteidigt hatte. Nach einer Langzeit-Recherche von ZEIT Online und Tagesspiegel sind seit 1990 insgesamt 169 Menschen aus rassistischen Motiven getötet worden. Wenn sich der Verdacht erhärtet, wird Lübcke als 170. Opfer in diese Liste eingehen.

Nun ist aus der Politik zu hören, dass Tötungen wie diese nach den Morden des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) nicht mehr für möglich gehalten wurden. Wer den Umgang mit rechtsextremistischer beziehungsweise rassistischer Gewalt in Deutschland schon länger mitverfolgt, den kann diese Überraschung nur überraschen.

Die aktuelle Statistik zu "Politisch motivierter Kriminalität" (PMK) für das Jahr 2018 weist einen Anstieg rassistischer Gewalttaten auf 1156 Fälle aus. Pro Tag wurden durchschnittlich drei rassistische Gewalttaten begangen – das Dunkelfeld ist groß, weil viele Taten nicht angezeigt oder nicht als rassistisch eingestuft werden. Als sich 2011 der sogenannte NSU selbst enttarnte, gab er den Blick frei auf ein rechtsstaatliches Desaster. Amnesty hat dazu im Juni 2016 den Bericht "Leben in Unsicherheit: Wie Deutschland die Opfer rassistischer Gewalt im Stich lässt" veröffentlicht.

Die NSU-Täter konnten elf Jahre lang im Untergrund leben und zehn Menschen ermorden: Elf Jahre lang verkannten die Ermittlungsbehörden die rassistischen Tatmotive. Durch fehlgeleitete Fahndungen, die sich ohne Beweise lange Zeit allein auf das Ermitteln gegen türkische oder griechische Banden konzentrierten, verhinderte die Polizei eine Aufdeckung des NSU-Komplexes. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Ermittlungsbehörden die Täter nicht finden wollten – im direkten Umfeld des NSU waren schließlich bis zu 40 V-Leute des Verfassungsschutzes im Einsatz.

Die Hoffnung, das Ermittlungsdesaster um die Mordserie des NSU löse einen Richtungswechsel für die deutsche Polizeiarbeit im Vorgehen gegen rassistische Gewalt aus, wurde enttäuscht: Der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages verabschiedete zwar 47 Handlungsempfehlungen, unter anderem für Justiz und Polizei. Diese Empfehlungen waren jedoch kein Startsignal für einen Neuanfang des konsequenten Vorgehens gegen rechtsextreme Gewalt. Sie zielten auf punktuelle Verbesserungen ab und kratzten nur an der Oberfläche der eigentlichen Missstände.

So fehlte die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung, welche Rolle institutioneller Rassismus bei den NSU-Ermittlungen gespielt hatte: Dabei waren nicht einzelne ermittelnde Beamte das Problem gewesen, sondern das strukturelle Versagen ganzer Behörden beim Schutz vor Rassismus – die vielzitierte Blindheit "auf dem rechten Auge". Und selbst die bestehenden Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses wurden bis heute nur teilweise umgesetzt. Jegliche echte Reform im Kampf gegen rechten Terror blieb aus.

Niemand darf heute überrascht sein, dass es im Jahr 2019 gut funktionierende Netzwerke von gewaltbereiten Rechtsextremen gibt. Das Urteil im NSU-Prozess im Juli 2018 schien für viele politische Akteure ein Anlass zu sein, das unangenehme Kapitel NSU-Komplex endgültig zu schließen. Die Warnungen verhallten, dass der NSU keineswegs ein Trio war, sondern ein großes Netzwerk vieler gewaltbereiter Rechtsextremer. Möglicherweise ist der Tod von Walter Lübcke Folge dieser Ignoranz.

Der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke wurde am 2. Juni 2019 auf der Terasse seiner Wohnung in Wolfhagen-Istha erschossen.

Der Staat muss Menschen schützen – vor Rassismus und vor Angriffen auf Leib und Leben. Das Verbot von Diskriminierung zählt zu den zentralen Menschenrechten – genauso wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Realität zeigt: 70 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bleiben die Menschenrechte in Deutschland für viele Menschen mit Migrationsgeschichte, People of Color, Schwarze Deutsche und Geflüchtete ein nicht eingelöstes Versprechen. Sie müssen täglich fürchten, beleidigt, angegriffen und diskriminiert zu werden. Es wird Zeit, dass Bund und Länder Handlungswillen zeigen und alle Mittel ausschöpfen, um Menschen vor rechter Gewalt zu schützen. Alle Menschen müssen sich in Deutschland sicher fühlen können.

Was jetzt passieren muss:

  • Offen geäußerter Rassismus ist ein Nährboden für rassistische Gewalt. Politische Akteure müssen sich einsetzen für einen öffentlichen Diskurs, der Rassismus keine Bühne bietet und rassistische Stereotype nicht verstärkt. In Gesellschaft und Behörden muss das Wissen verbreitet werden, dass nach der internationalen UN-Definition von Rassismus nicht nur vorsätzlich rassistisches Handeln Rassismus darstellt, sondern auch Handeln mit einer – womöglich ungewollten – diskriminierenden Wirkung.
  • Das Ausmaß rassistischer Gewalt muss sichtbar gemacht werden. Dafür muss die aktuelle Erfassung durch die PMK-Statistik überarbeitet werden: Es muss möglich sein, eine Tat auch dann noch als rassistisch zu kategorisieren, wenn die Einstufung erst im Laufe der Ermittlungen erfolgt. Die Führungskräfte der Polizeibehörden von Bund und Ländern müssen eine Null-Toleranz-Politik gegenüber rassistischen Äußerungen und rechtsextremen Betätigungen durch Polizist_innen durchsetzen.
  • Eine zentrale Empfehlung des NSU-Ausschusses war die Forderung nach mehr Schulungen und Trainings im Bereich Menschenrechte und Rassismus für Polizei und Justiz. Diese Forderung muss endlich ernst genommen und mit Substanz gefüllt werden. Notwendig ist eine obligatorische, regelmäßige und ernsthafte Auseinandersetzung mit Rassismus – am besten durch Schulungen mit externen Experten und Selbstorganisationen.

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